Die Sprachforscher erklären sich den Namen Grindelwald wie folgt: Das altdeutschkeltische Wort "Grindel" bezeichnet ein Stück Holz, das einer Abschrankung diente. Der "Grindel"-Wald wäre somit eine waldige Talschaft, die von der übrigen Welt abgeriegelt ist. Ein Umstand, der für Grindelwald bis zur öffnung der Wege entlang der Schwarzen Lütschine weitgehend zutraf. Mit ziemlicher Sicherheit waren die ersten Bewohner des Grindelwaldtales Bergkelten, die wohl im ersten nachchristlichen Jahrtausend über die beiden Scheideggen einwanderten. Erst nach und nach überwanden sie die Scheu vor den "Grinden" und dem Wald im Talgrund, zogen allmählich weiter hinab und wohnten schliesslich doch lieber im milderen Talgrund als auf den rauhen Höhen. So entstand die zerstreute Siedlung Grindelwald. Die erste schriftliche Erwähnung des Namens Grindelwald findet sich in einer Urkunde aus dem Jahre 1146, in welcher König Konrad dem Augustinerkloster zu Interlaken und damit auch dessen Grundbesitz in Grindelwald (fundum in Grinddwalt) seinen Schutz zusichert. Im Laufe der Zeit weitete das Kloster seinen Grundbesitz in Grindelwald aus, teils durch Kauf, teils durch Schenkung. Die Mönche erlebten indes nicht eitel Freude mit ihren Grindelwalder Untertanen; bei Aufständen waren die Talleute stets als treibende Kräfte beteiligt. Besonders hartnäckig wehrten sich die Grindelwalder gegen den Zugriff des Klosters auf ihre Alpen, denn Land-und Alpwirtschaft bildeten die Existenzgrundlage der Talschaft. Bei den sieben umliegenden Alpen -Scheidegg, Grindel, Bach, Holzmatten und Bussalp auf der Sonnseite, Itramen und Wärgistal auf der Schattseite -drängte sich diese Form des Lebenserwerbs auf. Im Jahre 1224 wurde Bern Schirmherr des Klosters Interlaken. Als die Grindelwalder - erbost über den sittlichen Zerfall und die Landgier der Mönche - rebellierten, war Bern nur zu gern bereit, seinen Pflichten als Schirmherr nachzukommen. Schon lange hatten die Berner darauf gewartet, als Nachfolger der Augustinermönche die grössten Grundherren des Oberlandes zu werden. Aber vorerst begnügten sie sich mit Protestnoten. Eine günstige Gelegenheit ergab sich, als mit der Reformationsbotschaft von 1528 auch die Aufhebung des Klosters Interlaken verfügt wurde. Doch für's erste hatten die Berner die Rechnung ohne den Wirt gemacht; denn auch die Oberländer fühlten Freiheitslüfte wehen und dachten an das Zusammengehen mit dem Berner Bären nur unter der Bedingung, dass dieser keine Abgaben verlangen würde. Den Bernern waren allerdings die ansehnlichen Einkünfte, die das Kloster bezogen hatte, zu gut bekannt, als dass sie auf diese Einnahmenquelle verzichten wollten. Die Waffen mussten sprechen, und sie entschieden zugunsten Berns. Die "auflüpfischen" (unwürdigen) Grindelwalder waren an diesen Wirren tatkräftig beteiligt: Sie jagten ihren Pfarrer Hans Holzmann, der auf Berns sanften Druck vom katholischen zum reformierten Glauben übergetreten war, aus dem Tal und holten sich von jenseits des Brünigs einen altgläubigen Seelenhirten. Im Oktober 1528 beschloss ein Grossteil der Oberländer auf der Höhematte in Interlaken, den alten Glauben wieder einzuführen. Bern, das diese Unbotmässigkeit nicht dulden wollte, unternahm eine Strafexpedition ins Oberland und verwüstete Grindelwald. Die danach amtierenden Berner Landvögte schienen in versöhnlichem Geist regiert zu haben; die Chroniken berichten weder von einer neuen Opposition gegen die Obrigkeit noch von erneuten Strafexpeditionen gegen unbotmässige Grindelwalder. Im Laufe der Jahrhunderte wurde Grindelwald wiederholt von der Pest heimgesucht. Am schlimmsten wütete sie 1669, als 788 Menschen den Tod fanden. Die Berner Regierung tat zwar ihr möglichstes, um die Seuche einzudämmen und schickte zwei ärzte nach Grindelwald. Aber leider befolgten die Talleute ihre Anweisungen nicht oder nur ungenügend. Sollte unterschwellige Opposition gegen Bern der Grund gewesen sein? Im 18. und 19. Jahrhundert
verbesserte sich das Verhältnis zwischen Grindelwald und Bern zusehends.
Den Bergbewohnern kam zum Bewusstsein, dass es sich unter der bedächtigen
"Mutzenherrschaft" doch gar nicht so schlecht leben liess; und der Berner
Regierung war nicht entgangen, dass ihre Grindelwalder Untertanen im Zeitalter
des beginnenden Fremdenverkehrs an einem bevorzugten Platz sassen, der
mit der Zeit ganz beachtliche Abgaben versprach.
Der Fremdenverkehr setzte anfänglich nur zögernd ein, aber schon bald begann sich eine stürmische Entwicklung abzuzeichnen. Die immer zahlreicheren Reisenden aus aller Welt formten das reine Bergbauerndorf allmählich zu einer Siedlung um, die mehr und mehr vom Gastgewerbe geprägt wurde. Der Brand von 1892, der in Grindelwald 116 Gebäude in Asche legte, verzögerte nur kurzfristig die touristische Entwicklung. Mit der Erschliessung Grindelwalds durch die Bahnen setzte sich der Fremdenverkehr endgültig durch: 1890 fuhr der erste Dampfzug der BOB (Berner Oberland Bahnen) nach Grindelwald. 1893 erfolgte die Betriebsaufnahme der WAB (Wengernalpbahn). Im Jahre 1900 bot Grindelwald 1250 Betten in 18 Hotels. 6 Jahre später, 1906, waren es bereits 30 Hotels. Nach dem 2. Weltkrieg brachte die Eröffnung der BGF, 1947, (Bergbahn Grindelwald-First) dem Kurort einen neuen, ungeahnten Aufschwung. Im letzten Jahrhundert bestimmte die Landwirtschaft Grindelwalds Wirtschaftsleben. Heute kann von land-und alpwirtschaftlicher Ausschliesslichkeit keine Rede mehr sein; im Gegenteil, der alte Nährstand des Tales ist arg ins Hintertreffen geraten. Der Fremdenverkehr dominiert, zeitweise übersteigt die Zahl der Touristen die der ständigen Einwohner bei weitem. 92% von Grindelwalds Einkommen kommen aus dem Tourismus, 57% direkt und 35% indirekt. Obgleich in der kosmopolitischen Atomsphäre des Fremdenortes viel von der früheren Eigenart Grindelwalds verlorengegangen ist, sind die Grindelwalder ein Menschenschlag eigener Prägung geblieben. Auch heute noch haben sie sich eine gewisse "Auflüpfigkeit" bewahrt, wenn politische Entscheidungen zu fällen sind. Sie sprechen zuweilen wenig schmeichelhaft über "Bern" (sie meinen damit die Regierung), selbst wenn einer von ihnen Regierungsrat oder Bundesrat ist. Bei aller Umgänglichkeit, die sie sich im Verkehr mit Gästen erworben haben, verleugnen sie aber nie eine der hervorstechendsten Tugenden des Berners und des Schweizers überhaupt: das freie, ungescheute Wort.
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