Es gibt sehr viele Untersuchungen über die sinkende Gesundheit von Schulkindern, über die Risikofaktoren von Adipositas im Schulalter oder über den Konsum von Alkohol und Drogen im Jugendalter. Und es gibt ebenso viele Präventionsprogramme und Projekte, um die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen zu verbessern. Die Alles-Heilanstalt namens Schule soll dabei wieder mal richten, was die Gesellschaft und die Erziehungsberechtigten versäumt haben. Die Liste ist lang, von A wie Antiraucherkampagne bis Z wie Zähneputzen, und sie fordert und überfordert immer mehr Lehrpersonen, so dass nun seit einigen Jahren auch die sinkende Gesundheit von Lehrpersonen bis hin zum Burnout ein Thema ist. Zwar gibt es auch in vielen anderen Berufen hohe Anforderungen, die ein grosses Mass an Flexibilität und persönlichem Engagement voraussetzen. Aber der Lehrberuf zeichnet sich zusätzlich durch eine ganze Reihe von Dilemma-Situationen aus, die nicht grundsätzlich lösbar sind, sondern die wir Lehrpersonen im besten Fall etwas entschärfen können, um sie dann besser auszuhalten. Und dazu müssen wir die Balance zwischen den grundsätzlich unvereinbaren Ansprüchen in solchen beruflichen Dilemmas finden und halten - ein ganzes Berufsleben lang, um gesund und produktiv zu bleiben. Dass mehr als 700 Lehrpersonen diese Veranstaltung an einem schulfreien Samstag besuchen, zeugt vom professionellen Bewusstsein der Teilnehmenden über ihr gesamtheitliches Lebensmanagement, ihre Work-Life- Balance.
Wir kennen alle das berühmt-berüchtigte Inserat "Be a hero be a teacher!", mit dem in den Neunziger Jahren in den USA versucht wurde, neue Lehrer zu rekrutieren. In der Zwischenzeit ist dieses Heldenimage auch in Europa angekommen. Der deutsche Bundespräsident hat am 21. September 2006 in seiner Berliner Rede gesagt: "Engagierte Lehrerinnen und Lehrer, die nicht aufgeben, die darauf brennen, jungen Menschen etwas beizubringen - das sind für mich Helden des Alltags." Und der schweizerische Bundespräsident doppelte in seiner Rede am SP-Parteitag vor einer Woche nach: "Die soziale Integration stellt viele die im Schulbereich arbeiten, vor ganz grosse Schwierigkeiten. Sie haben sich stark gemacht für Integration der Schweizerkinder und der ausländischen. Heute müssen sie sich mit Mobbing und sexueller Gewalt auseinandersetzen, obwohl deren Ursachen nicht in der Schule zu suchen sind." Lehrerinnen und Lehrer dürfen
sich nicht für alles, was in der Schule, Familie und Gesellschaft
schief läuft, verantwortlich fühlen, sondern müssen auch
Aufgaben zurückweisen und zusätzliche Ressourcen verlangen. Denn
für viele Lehrpersonen ist die Belastungsgrenze heute erreicht, für
einige bereits überschritten. Und da helfen solche präsidialen
Anerkennungen oder Appelle, wie der berühmte Spruch von Bill Clinton
"To be a teacher is for ever to be an optimist" auch nicht wirklich weiter.
Wo sind denn die wichtigsten Dilemmas, die wir als Lehrpersonen ein Leben lang aushalten müssen? Ich möchte einige typische Beispiele aus meiner eigenen, nun bald dreissigjährigen Erfahrung als Lehrer und Pädagoge, als Gewerkschafter und Standespolitiker aufzählen und diese in drei Bereiche gruppieren: Ich und meine Klasse Wir und unsere Schule Bildungspolitik und Gesellschaft Als Lehrperson muss ich jeden einzelnen Lernenden wahrnehmen, bestmöglich fördern und gleichzeitig dafür sorgen, dass die Klassenziele erreicht werden. Ich muss die Lernfortschritte bei jedem Schüler einzeln dokumentieren, die Leistungen gleichzeitig aber auch am Klassendurchschnitt orientieren. Als Lehrer bin ich für die Lernenden Trainer, Prüfer und Schiedsrichter in Personalunion und vergrössere oder verkleinere, ob ich es will oder nicht, die Lebens- und Ausbildungsmöglichkeiten meiner Schülerinnen und Schüler durch Selektions- und Promotionsentscheide, durch Er- oder Entmutigungen. Ich signalisiere zwar jedem Lernenden eine persönliche Wertschätzung und reagiere mit verständnisvoller Empathie auf Probleme, muss gleichzeitig aber auch dafür sorgen, dass mir die Führung der ganzen Klasse nicht aus den Händen entgleitet und ich für alle den gleichen Tarif bei problematischem Verhalten durchsetzen kann. Auf der Schulebene sorge ich dafür, dass die Grundwerte unserer Schule eingehalten werden, ohne aber deswegen die grundsätzliche Wertepluralität und meine eigenen Wertvorstellungen ausser Acht zu lassen. Als Teil des Kollegiums beteilige ich mich an den Entwicklungsarbeiten meiner Schule, auch wenn im Bereich "Ich und meine Klasse" die Jahresarbeitszeit schon weitgehend erfüllt ist und die Erwartungen und die Anforderungen an meinen Unterricht ständig steigen. Als Mitglied der Gesellschaft setze ich mich für die Schulen und das Bildungswesen ein, und bekomme als "Dank" die immer gleichen Vorurteile über meinen Beruf zu hören nach dem Motto: Lehrer haben am Morgen Recht und am Nachmittag frei. Viele Bildungspolitiker beschwören zwar die Wichtigkeit unseres Berufes, scheuen sich aber gleichzeitig nicht, die Arbeits- und Anstellungsbedingungen weiter zu verschlechtern statt sie endlich wieder zu verbessern. Die Schere zwischen Aufgabendelegation an die Schule und
den konkreten Arbeits- und Unterrichtsbedingungen vor Ort öffnet sich
immer mehr. Die Dilemma- Beispiele liessen sich in allen drei Bereichen
noch lange fortsetzen.
Ein altes Sprichwort sagt, man dürfe ein Schiff nicht an einen einzigen Anker und das Leben nicht an eine einzige Hoffnung binden! Wer als Lehrperson ausschliesslich für den Beruf lebt, tut sich, seiner Familie und nicht zuletzt auch seiner Schule auf Dauer keinen guten Dienst. Daher sollte man das Leben so strukturieren, dass genügend Ausgleich möglich ist. Man muss sich Zeit für Dinge nehmen, die einem Spass machen können und nicht kommerziell oder rein zweckgesteuert sind. Letztlich ist eine Verhaltensmodifikation auf verschiedenen Ebenen angesagt (Lebensstil, Bewegung, Einstellung, soziale Beziehungen, Ernährung). Die Potsdamer Lehrerstudie
von Professor Uwe Schaarschmidt zeigt eindrücklich, wie die persönlichen
Bewältigungsmuster im Lehrberuf in Kategorien eingeteilt werden können,
wo die Risikofaktoren sind und wie eine konsequente Ressourcenorientierung
aussehen muss, um den Lehrberuf ein Leben lang gesund ausfüllen zu
können. Dieser Lernprozess lässt sich mit Vorteil zusammen mit
anderen Kolleginnen und Kollegen und im Verbund mit anderen Schulen, beispielsweise
im schweizerischen Netzwerk Gesundheitsfördernder Schulen angehen.
Denn wer als Lehrperson selber eine gute Work-Life-Balance - auf der Grundlage
einer guten Work-Work-Balance! - erreicht hat, kann diese Grundhaltung
auch besser an die Schülerinnen und Schüler weiter geben.
Seit seinem Bestehen geht der LCH bei allem, was er tut, was er unterstützt, fordert oder bekämpft, von der Grundhaltung der "Professionalisierung" des Lehrberufs aus. Damit ist dreierlei gemeint: 1. Wir anerkennen, dass die uns von der Gesellschaft übertragenen Aufgaben nicht widerspruchsfrei sind, sondern Dilemmasituationen beinhalten. 2. Wir bemühen uns, unseren Teil der Bildungs-, Erziehungs- und Schulentwicklungsarbeit als Lehrende zu leisten - nach anerkannten Regeln und im Rahmen des Gesamtauftrags. 3. Wir fordern, dass auch die Auftraggeber auf allen Stufen ihren Teil zu den Gelingensbedingungen für einen guten Unterricht beitragen. Als Professionelle wehren wir uns dagegen, freiwillig mitzuarbeiten in Projekten ohne genügende Ressourcen oder bei denen ein Scheitern absehbar ist. Alle drei Kernsätze setzen voraus, dass Lehrerinnen und Lehrer sich kompetent und stark fühlen. Viele von uns neigen von ihrer Berufung her dazu, auch "unter Tarif" zu arbeiten. Das mag zwar pädagogisch edel sein, schadet aber auf Dauer sowohl der Qualität der Auftragserfüllung wie auch der eigenen Gesundheit. Gesunde und starke Lehrpersonen brauchen solche überfordernden Selbstbemogelungen nicht für ihr Wohlbefinden! Die Angebote dieser Fachtagung, die Referate und Ateliers mögen dazu beitragen, dieses "Empowerment", diese Selbstbefähigung und Stärkung von Autonomie und Eigenmacht zu unterstützen und zu befördern. Bereits zum dritten Mal hat der LCH eine repräsentative Erhebung über die Berufszufriedenheit der Lehrerinnen und Lehrer in der deutschen Schweiz durchgeführt. Charles Landert und Anton Strittmatter werden darüber noch berichten. Aus diesem "Personalmonitoring" entstehen wichtige Grundlagen für die Personalführung im Bildungsbereich. Und damit ist auch gesagt, dass die Arbeitgeber in der Pflicht stehen, wenn es darum geht, die Erkenntnisse aus diesem Personalmonitoring umzusetzen Angesichts der Tatsache, dass in den nächsten zehn Jahren je nach Stufe bis zu einem Drittel aller Lehrpersonen pensioniert werden, werden wissenschaftliche Erkenntnisse zur Work Life Balance und zur Berufszufriedenheit von Lehrerinnen und Lehrern noch viel mehr Gewicht bekommen. Aus Sicht des LCH können wir aus den jetzt vorliegenden Befunden und Erfahrungen der letzten Jahre bereits drei wichtige Folgerungen ziehen: Um die pädagogischen Herausforderungen und die Erziehungsdefizite in vielen Elternhäusern auch nur einigermassen zu meistern, brauchen wir deutlich bessere Arbeitsbedingungen, mehr pädagogisch und psychologisch geschultes Personal und mehr Angebote für Tagesstrukturen und Ganztagesschulen. Nur so kann die Betreuung von Kindern und Jugendlichen verbessert werden. Um den Lehrberuf an die veränderten Umstände anzupassen, müssen wir ihn neu definieren und dabei endlich die Polarität zwischen Berufsethos und pädagogischem Mythos überwinden. Der LCH ist zur Zeit daran, ein realistischeres und damit professionelleres Berufsverständnis zu definieren und wird dazu ein neues Berufsleitbild in eine breite Vernehmlassung geben. Angesichts der vorliegenden Untersuchungen und der zunehmenden Bedeutung des Themas "Balancieren im Lehrberuf" muss die Gesundheitsförderung ein neues und wichtiges Aufgabengebiet des LCH werden. Der Bayerische Lehrerinnen- und Lehrerverein hat vor einem Jahr das Institut für Gesundheit in pädagogischen Berufen gegründet und leistet damit als Selbsthilfeeinrichtung der Lehrerschaft wertvolle Pionierarbeit. Der LCH hat schon ein bisschen früher geschaltet und sich als Vertragspartner am Kompetenzzentrum RessourcenPlus der Fachhochschule Nordwestschweiz beteiligt. Dieses Institut hat seinen Arbeitsschwerpunkt bei Forschungen und Dienstleistungen zur Lehrerinnen- und Lehrergesundheit. Eine Kostprobe haben Sie in der Serie "Heiter und gesund" in den letzten Nummern von "Bildung Schweiz" degustieren können. Ein letzter Gedanke ist mir wichtig, bevor ich zur Danksagung komme: Ein tragfähiges professionelles Selbstverständnis hängt wesentlich davon ab, ob eine Lehrperson die Balance zwischen pädagogischem Idealismus und schulischer Realität herstellen kann. Stimmt diese Balance, dann kann der Lehrberuf erfüllend und befriedigend sein. Stimmt sie nicht, kann der Beruf aber auch in Resignation und Krankheit führen. Es geht also keinesfalls darum, über die Gesundheitsgefährdungen in diesem Beruf nur öffentlich zu lamentieren und damit einen ganzen Berufsstand zu pathalogisieren. Ganz im Gegenteil: Eine gesunde, leistungsfähige und optimistische Lehrerschaft ist und bleibt der wichtigste Erfolgsfaktor für eine Bildungspolitik, die von der Schule sowohl Spitzenresultate als auch mehr Chancengerechtigkeit will.
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