In den vergangenen sechs Monaten hat ein internationales Wissenschaftlerteam aus Russland, Deutschland, USA und Österreich ein Tiefbohrprogramm im äussersten Nordosten Russlands durchgeführt, um hunderte Meter Seesedimente, Impaktbrekzie und dauerhaft gefrorenen Boden zu bergen. Diese ermöglichen neue Einblicke in die Klimageschichte der Arktis, die Kraterbildung des Elgygytgynsees und in die Permafrostdynamik. Mit den ersten Ergebnissen der Bohrkampagne wurde Anfang Mai 2009 ein wichtiger Meilenstein erreicht. Die gewonnenen Bohrkerne werden in den nächsten zwei Jahren wesentliche offene Fragen der arktischen Erdgeschichte klären können. Am äussersten Rand Nordostsibiriens, rund 900 Kilometer westlich der Beringstrasse und 100 Kilometer nördlich des arktischen Polarkreises (67°30' N, 172°05' E) liegt der Elgygytgynsee, der vor 3,6 Mio. Jahren durch einen Meteoriteneinschlag entstand. Der See ist im Gegensatz zu den meisten anderen Gebieten dieser Breitengrade nie vergletschert gewesen - seine kontinuierlich am Grund des Sees abgelagerten Sedimente stellen somit ein unschätzbares Klimaarchiv der Arktis dar. Internationale Wissenschaftler verschiedener Disziplinen haben sich zum Ziel gesetzt, dieses Archiv zu bergen. Nach einer Vorbereitungsdauer von elf Jahren begann Ende vergangenen Jahres eine gross angelegte Tiefbohrkampagne. Unter schwierigsten Bedingungen wurde an diesem abgelegenen Ort eine Infrastruktur für bis zu 40 Personen geschaffen - Unterkünfte, sanitäre Anlagen und Versorgungseinheiten.
Die Ergebnisse können sich sehen lassen: Trotz starker Schneestürme und tiefer Temperaturen erreichte das Team eine Bohrtiefe von 142 Metern. Die erbohrten Kerne enthalten Informationen zur Geschichte des Permafrostes und dessen Einfluss auf die Seesedimentation. "Man kann an den Bohrkernen auch Seespiegelschwankungen ablesen", so Georg Schwamborn von der Forschungsstelle Potsdam des Alfred-Wegener-Instituts, der die Permafrostbohrungen leitete. Von grosser Bedeutung ist auch die Installation einer Temperaturmesskette in dem Bohrloch durch die Wissenschaftler aus Potsdam. Sie dokumentiert die aktuell stattfindenden Veränderungen im Permafrostboden. Deren Verständnis ist für die Klimaforschung von hohem Wert, da eine Freisetzung der im Permafrost gebundenen Gase beim Auftauen den Treibhauseffekt weiter verstärken könnte.
"Aus detaillierten Untersuchungen der übergänge von Kalt- zu Warmzeiten können wir lernen, wie die Arktis auf Klimaerwärmungen in der Vergangenheit reagiert hat, und damit prognostizieren, wie sie in Zukunft reagieren wird", erläutert Catalina Gebhardt vom Alfred-Wegener-Institut in Bremerhaven. Mit den tiefsten Seesedimentkernen wurde dagegen bis in die Zeit des Pliozäns, vor mehr als 2,6 Mio. Jahren vorgestossen. "Diese Sedimente sind von besonderer Bedeutung, da das Klima zur damaligen Zeit deutlich wärmer war als heute" so Martin Melles, "Damit können die Erkenntnisse aus diesen Sedimenten als Modellfall für die Arktis in einigen Jahrzehnten dienen, wenn dort die besonders starke Klimaerwärmung, wie von Klimamodellen vorhergesagt, stattfinden wird".
Die nahezu 3,5 Tonnen Kerne, die 2009 erbohrt wurden, werden Anfang Juni zunächst zum russischen Arktis- und Antarktisforschungsinstitut (AARI) nach St. Petersburg gebracht. Von dort aus werden die Kerne aus der gesamten Bohrkampagne nach Deutschland transportiert: Die Permafrostkerne an das Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung, die Seesedimente an die Universität zu Köln und die Impaktbrekzie nach Potsdam zum ICDP. In den kommenden zwei Jahren finden die Auswertungen statt. Insgesamt werden bis zu 30 Gastwissenschaftler neben den deutschen Forschern und zahlreicher Studenten an den Kernen arbeiten.
Der im äussersten Nordosten Sibiriens liegende Elgygytgynsee bildete sich vor 3,6 Mio. Jahren durch einen Meteoriteneinschlag. Obgleich man durch Untersuchungen des Gesteins bereits 1978 das Alter des Kraters festgelegen konnte, entdeckte erst die Russin Olga Glushkova 1994 im Rahmen von Kartierungsarbeiten den wissenschaftlichen Wert des Sees. Mit dem Ziel, die vergletscherten Gebiete Chukotkas zu erfassen, stellte sie am Elgygytgynsee fest, dass die Eisschicht im Verhältnis zu den meisten Gebieten dieser Breitengrade recht dünn war und somit keinen steten Abtragungen des darunter liegenden Bodens unterlag. Erste Ergebnisse Die Einbeziehung amerikanischer und insbesondere auch deutscher Wissenschaftler verschiedener Disziplinen führte 1998 zu einer ersten Bohrkampagne am See und spektakulären Entdeckungen: Der 13m lange Bohrkern PG 1351, bisher längster Seesedimentkern aus der Arktis, entpuppte sich als 250'000 Jahre altes Klimaarchiv und geht somit um doppelt so viel Zeit zurück wie der längste Eiskern aus Grönland. Man konnte weiterhin feststellen, dass der Elgygytgynsee zu keiner Zeit vergletschert oder ausgetrocknet war - nicht nur für Geologen eine wahre Fundgrube. Vertiefungen Anhand
von seismischen Untersuchungen, die in der 2000-er Kampagne der Feststellung
der Positionierung und Dicke der Sedimentablagerungen dienten, konnte man
beweisen, dass der Aufsehen erregende Bohrkern PG 1351 nur die Spitze des
Eisbergs darstellte:
Mehrere 100m darunter liegender Sedimentschichten konnten lokalisiert werden, ein Umstand, der das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) davon überzeugte, eine detaillierte Vorstudie zu finanzieren. Ausbau der Disziplinen 2003 führten zwei weitere Expeditionen an den bis auf wenige Wochen im Jahr zugefrorenen See. Im Fokus standen vier Aktionen: Rezente Prozesse: Anhand der Untersuchungen von Wind, Eis, Wasser und der biologischen Produktion im See wurden sedimentbildende Prozesse unter die Lupe genommen. Seesedimentprobenahmen: Das Klimaarchiv wurde auf 340'000 Jahre erweitert. Verdichtung des seismischen Profilnetzes: Die Geophysiker konnten die Seesedimente bis zur Basis erkunden. Permafroststudien: Untersuchungen zur Geschichte und den Bedingungen des Permafrostes liessen Rückschlüsse auf seine Auswirkungen auf die Sedimentbildung im See zu. Die Ergebnisse der Vorstudie dienten auch der Festlegung der Stellen für die spektakulären Tiefbohrungen, von denen die Forscher die staatlichen Förderinstitutionen der USA, Deutschlands und Russlands sowie das International Continental Drilling Program (ICDP) überzeugen konnten. Nächste Schritte Von Ende Oktober bis Anfang Dezember fährt wieder ein 8-köpfiges Forscherteam an den Weissen See. Ziel ist es, 200m tief in die Permafrostdecke einzudringen. Die Resultate werden Aufschluss über die Landschafts- und Umweltgeschichte der Umgebung geben und entscheidend für die Interpretation der Seearchive sein. Diese werden aus den für Mitte Januar bis Anfang Mai kommenden Jahres geplanten Seebohrungen gewonnen. Angesetzt wird an zwei verschiedenen Punkten: - zum Einen in der Seemitte, in der die Sedimentschichten relativ ungestört sind; - zum Anderen am Seerand, um festzustellen, welchen Einflüssen und Bewegungen die Ablagerungen ausgesetzt waren. Die Forscher planen eine maximale Bohrtiefe von ca. 800m - dies müsste nach bisherigen Berechnungen reichen, um die Schicht des Vulkangesteins zu erreichen, die vor dem Meteoriteneinschlag die Erdoberfläche bildete. Die wesentlichen wissenschaftlichen Partnerinstitutionen sind: Arctic and Antarctic Research Institute (AARI), Alfred-Wegener-Institut (AWI), GeoForschungsZentrum (GFZ), NEISRI, Universität zu Köln, Universität Wien, University of Massachusetts (UMass), University of Alaska Fairbanks (UAF). Projektförderer sind: International Continental Scientific Drilling Program (ICDP), National Science Foundation (NSF), Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), Russian Academy of Sciences (RAS). Leiter (Principal Investigators) des Klimaforschungsprojekts sind Prof. Dr. Julie Brigham-Grette, UMass, und Prof. Dr. Martin Melles, Universität zu Köln.
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