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Elementarteilchenphysik - Erkenntnis aus dem Nichts
Experimente helfen, Modelle der Elementarteilchenphysik zu überprüfen und auszusortieren.
In einem Experiment untersuchte ein internationales Team den Zerfall des positiven Myons in ein Positron und ein Photon - einen Vorgang, der nach dem Standardmodell der Elementarteilchenphysik so extrem unwahrscheinlich ist, dass er nicht nachweisbar wäre. Andere Modelle sagen aber deutlich höhere Wahrscheinlichkeiten voraus. Das Experiment wurde am Paul Scherrer Institut durchgeführt, dem weltweit einzigen Ort, an dem genügend Myonen erzeugt werden. Im zweiten Experiment beschäftigte sich ein PSI-Team mit Zerfällen des Bs-Mesons, eines Teilchens das nur mithilfe höherer Energien zu erzeugen ist. Die Forschenden führten ihre Experimente am Europäischen Teilchenforschungszentrum CERN in Genf durch. Die Resultate beider Experimente sind in der renommierten Zeitschrift Physical Review Letters erschienen.

Ein Ziel der Elementarteilchenphysik ist es, eine umfassende mathematische Beschreibung zu entwickeln, die das Verhalten aller Teilchen und ihrer Wechselwirkungen korrekt beschreibt. Seit mehreren Jahrzehnten hat sich das sogenannte Standardmodell der Elementarteilchenphysik herausgebildet und weitgehend bewährt. Es lässt aber wichtige Fragen unbeantwortet - wie etwa die nach der Natur dunkler Materie oder dunkler Energie, von denen Forscher vermuten, dass sie im All weit verbreitet sind.

Unbefriedigend ist auch, dass Grössen, wie etwa alle Teilchenmassen oder die Stärken der Naturkräfte, durch das Standardmodell nicht festgelegt sind und nur im Experiment bestimmt werden können. Aber auch alternative Modelle enthalten meist solche und noch mehr freie Parameter, da sie oft neue, noch unentdeckte Teilchen und deren Eigenschaften mitbeschreiben.

Seltene Zerfälle könnten den Weg zur «neuen Physik» zeigen

Ein Weg, mithilfe von Experimenten die Voraussagen der Modelle zu testen, ist die Beobachtung von Teilchenzerfällen. Die meisten Elementarteilchen sind instabil und zerfallen nach kurzer Zeit in andere Teilchen. Dabei gibt es meist mehrere Möglichkeiten, was die Zerfallsprodukte sein können. Der Anteil einer bestimmten Zerfallsart an allen Zerfällen ist dabei oft eine wertvolle Messgrösse. Sollte ein bestimmter Zerfall deutlich öfter (oder weniger oft) beobachtet werden als vom Standardmodell vorausgesagt, wäre das ein deutlicher Hinweis auf sogenannte neue Physik, die eine Beschreibung in einem neuartigen Modell nötig macht.

Auf der Suche nach der neuen Physik untersuchen auch Forschende des Paul Scherrer Instituts in zwei Projekten solche Zerfälle: einmal den Zerfall des positiven Myons in ein Positron (positives Elektron) und ein Photon (Lichtteilchen), zum anderen den Zerfall eines exotischen Teilchens mit dem Namen Bs-Meson in zwei Myonen.

Zwei Eigenschaften machen diese Zerfälle für die Forschung so interessant: Einersteits sagen verschiedene Modelle für sie verschiedene Wahrscheinlichkeiten voraus, sodass ihre Beobachtung helfen würde, Modelle zu unterscheiden. Zum anderen sagen viele moderne Modelle so hohe Wahrscheinlichkeiten voraus, dass es mit den verfügbaren Methoden möglich sein könnte, die Zerfälle nachzuweisen.

Viele Teilchen am PSI

Ein Myon ist gewissermassen der schwere Bruder des Elektrons. Es ist ein instabiles Teilchen, das innerhalb von rund 2 Millionstelsekunden zerfällt - im Fall des positiv geladenen Myons meist in ein Positron und zwei Neutrinos. Dem positiven Myon ordnen die Physiker die Myonenzahl -1 zu, dem Positron die Elektronenzahl -1, dem einen der Neutrinos Elektronenzahl +1 und dem anderen ebenfalls die Myonenzahl -1. Die Summe solcher Zahlen vor und nach Reaktion ist im aktuellen Standardmodell so gut wie immer gleich.

Der Zerfall des positiven Myons in ein Positron und ein Photon würde dieses Prinzip verletzen, so dass nur ein einziges Myon unter 1050 auf diese Weise zerfallen würde. Da niemals ein Experiment mit so vielen Myonen gemacht werden kann - 1050 entspricht etwa der Anzahl Atome, aus denen unsere Erde besteht - wäre es demnach völlig unmöglich, diesen Zerfall zu beobachten.

«Andere Theorien sagen für diesen Zerfall aber sehr viel höhere Wahrscheinlichkeiten voraus - einen Zerfall unter 1012 oder 1013,» erklärt Stefan Ritt, einer der beteiligten PSI-Forscher. «Das können wir messen. Und wenn wir in unserem Experiment zuverlässig einen solchen Zerfall beobachten würden, wäre das ein deutlicher Hinweis auf «neue Physik» - darauf, dass ein alternatives Modell die Wirklichkeit richtig beschreibt.»

«Eine solche Messung ist nur am PSI möglich, denn nur hier werden genügend Myonen erzeugt», ergänzt Peter-Raymond Kettle, ein weiterer beteiligter Forscher «Wir beobachten rund 30 Millionen Myonenzerfälle pro Sekunde und registrieren dabei deren Zerfallsprodukte, aber auch Teilchen, die von aussen kommen.

Die Herausforderung ist, darunter ein solches Paar aus Positron und Photon zu finden, das aus dem gesuchten Myonenzerfall stammt - die beiden Teilchen müssten gleichzeitig entstanden sein, in entgegengesetzte Richtungen fliegen und die passenden Energien haben. Natürlich wäre es einfacher, jedes Myon einzeln einzufangen und dessen Zerfall zu beobachten. Aber dann würde es mehr als ein Menschenleben dauern, um zu sehen, ob 1 von 1013 Myonen in der für uns interessanten Weise zerfällt.»

Viel Energie am CER

Der Zerfall der neutralen Bs-Mesonen in zwei Myonen ist zwar deutlich wahrscheinlicher als der gesuchte Zerfall des Myons, aber immer noch klein - das Standardmodell sagt voraus, dass etwa nur eines von 109 Teilchen auf diesem Wege zerfällt. «Grund ist, dass bei diesem Zerfall mehrere Prozesse stattfinden müssen, die von sich aus sehr unwahrscheinlich sind. So bestehen die Mesonen aus zwei Bausteinen - einem «s-Quark» und einem «b-Antiquark», die einander vernichten müssen, was schon an sich schwierig ist. Ausserdem zeigen die Spins - die Drehrichtungen - der Zerfallsprodukte gewissermassen in die falsche Richtung», erklärt Urs Langenegger, Mitglied der PSI-Forschungsgruppe, die die Untersuchung betreibt. So geschieht es, dass die allermeisten Zerfälle auf einem anderen, wahrscheinlicheren Weg geschehen.

Experimentell ist die Untersuchung eine Herausforderung, weil die Teilchen mit grossem Aufwand erzeugt werden müssen - man braucht dafür hohe Energien, wie sie etwa am CERN in Genf verfügbar sind. Hier prallen zwei Strahlen sehr schneller Protonen aufeinander. In den Kollisionen entstehen dann verschiedenste Teilchen, darunter die Bs-Mesonen. Diese zerfallen nach kürzester Zeit. «Wir stehen hier vor der Herausforderung, die passenden Teilchen aus einer grossen Datenmenge herauszufiltern, solche, die aus dem Zerfall eines Bs-Mesons stammen und darunter wieder die Myonenpaare», so Langenegger «Dabei haben wir es hier insgesamt mit einer so grossen Zahl an zerfallenden Teilchen zu tun, dass man nicht einmal alle Daten speichern kann. Eine entsprechende Elektronik muss also unmittelbar nach der Messung entscheiden, welche der gewonnen Daten überhaupt gespeichert werden.»

Kein Fund ist auch ein Ergebnis

In beiden Fällen konnten die Forschenden die gesuchten Zerfälle bisher nicht beobachten. Paradoxerweise sind die Versuche damit trotzdem sehr erfolgreich. Sie zeigen, dass die gesuchten Zerfälle so unwahrscheinlich sind, dass sie innerhalb der bisher beobachten Gesamtzahl von Zerfällen nicht vorkommen.

Die Modelle der Teilchenphysik, die für diese Zerfälle grössere Wahrscheinlichkeiten voraussagen, können jetzt mit guter Gewissheit als Kandidaten für die korrekte Beschreibung der Welt der kleinen Teilchen ausgeschlossen werden. Das schliesst zunächst nicht unbedingt einen vollständigen theoretischen Ansatz aus, sondern Modelle mit bestimmten Parameterwahlen, wie zum Beispiel den oben erwähnten Massen spekulativer Teilchen. Oft zeigt aber die Kombination mehrerer Experimente, dass man die Parameter gar nicht mehr so wählen kann, dass Voraussagen und Ergebnisse übereinstimmen. Dann wäre bewiesen, dass ein ganzer Ansatz falsch ist. «Ein solches Ergebnis hätte einen enormen Einfluss auf die Art, wie wir Teilchenphysiker die Welt sehen», so Stefan Ritt.

Die Suche nach den vorhergesagten Zerfällen wird fortgesetzt und wird - unabhängig davon, ob die gesuchten Zerfälle gesichtet werden oder nicht - wesentlich zu unserem Wissen um die fundamentalen Strukturen der Materie beitragen.

Neue Detektorchips und winzige Oszilloskope

Teilchenphysik liefert technische Neuerungen für Forschung und Medizin

Die Untersuchungen der PSI-Forscher stellen nicht nur die vorderste Front der Forschung dar, sie brauchen auch modernste Technik - Technik, die oftmals speziell für ein Experiment entwickelt werden muss, weil es keine zu kaufen gibt, die die Anforderungen erfüllen würde. So haben Forschende des PSI für das CMS-Experiment am CERN, an dem die Zerfälle der Bs-Mesonen untersucht werden, einen neuen Detektor entwickelt, der die entstehenden Teilchen mit bisher unerreichter Genauigkeit verfolgen kann.

Der Detektor kommt allen Nutzern der Anlage zu gute; seine Technologie wird inzwischen in kommerziellen Röntgendetektoren angeboten und an zahlreichen Forschungsanlagen genutzt. Für das Myonenexperiment ist es wichtig, die Eigenschaften der beobachteten Lichtteilchen genau zu bestimmen.

Ein Lichtteilchen, das aus dem gesuchten Zerfall stammen würden hätte eine bestimmte Energie. Man muss aber verhindern, dass zwei Lichtteilchen, die fast gleichzeitig registriert werden, für ein einzelnes mit der richtigen Energie gehalten werden. Diese Unterscheidung macht ein winziger elektronischer Chip möglich, der wie ein übliches schuhschachtelgrosses Oszilloskop den genauen Verlauf eines Signals registrieren kann. Das Experiment ist mit mehreren hundert solcher Chips ausgerüstet; diese sind inzwischen auch kommerziell erhältlich und werden an anderen Forschungsinstituten in den Versuchsanlagen eingebaut. Ebenso sind Anwendungen in der Medizintechnik geplant.

Hintergrund - wie man mit Experimenten theoretische Modelle ausschliessen kann

Das Ziel der beschriebenen Experimente ist, von theoretischen Physikern erarbeitete Beschreibungen der Welt der kleinsten Teilchen zu testen. Dabei wird heutzutage eine ganz Reihe von Ansätzen betrachtet, zu denen etwa die Supersymmetrie (SUSY) oder die Grand Unified Theories (GUT) gehören. Eine entsprechende Theorie beschreibt an sich das Verhalten der Teilchen noch nicht im Detail - dazu müssen noch mehrere Parameter festgelegt werden. Eine Theorie mit einer bestimmten Festlegung dieser Parameter ergibt ein Modell, das dann eine vollständige Beschreibung liefert.

Mit den Ergebnissen der beschriebenen Experimente kann man nun sagen, dass bestimmte Modelle - also Kombinationen einer Theorie mit einer Wahl der Parameter - nicht die richtige Beschreibung liefern. So wird heute eine Theorie, die unter dem Namen MSSM (Minimal Supersymmetric Standard Model) bekannt ist, von vielen Forschenden in Betracht gezogen. Dabei handelt es sich um eine Erweiterung des Standardmodells, die die Supersymmetrie einschliesst.

Über das PSI

Das Paul Scherrer Institut entwickelt, baut und betreibt grosse und komplexe Forschungsanlagen und stellt sie der nationalen und internationalen Forschungsgemeinde zur Verfügung. Eigene Forschungsschwerpunkte sind Materie und Material, Mensch und Gesundheit, sowie Energie und Umwelt. Mit 1400 Mitarbeitenden und einem Jahresbudget von rund 300 Mio. CHF ist es das grösste Forschungsinstitut der Schweiz.

Quelle: Text Paul Scherrer Institut PSI , März 2012
Synchrotron Lichtquelle Schweiz (SLS) im Paul Scherrer Institut (PSI)

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