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Armut verhindern und bekämpfen 2011
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Grafik Thema: Gesellschaft, Gesundheit & Soziales
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Kanton Bern - 2. Berner Sozialgipfel
Armut verhindern und bekämpfen: ein Auftrag an die Sozialpolitik
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Vortrag von Regierungsrat Philippe Perrenoud , Gesundheits- und Fürsorgedirektor des Kantons Bern
am 2. Berner Sozialgipfel vom 22. August 2011

"Armut geht uns alle an": so steht es in der Kurzfassung des 2. Sozialberichtes.

Was wissen wir über die Armut im Kanton Bern?

"Nicht viel" musste am Anfang meiner Amtszeit vor fünf Jahren die Antwort auf diese Frage lauten. Deshalb hat sich meine Direktion daran gemacht, die Armut im Kanton Bern, ihr Ausmass, ihre verschiedenen Facetten und Dimensionen, Schritt für Schritt auszuleuchten.

Der erste, wichtige Schritt erfolgte im Dezember 2008: Ich konnte der Öffentlichkeit den ersten Berner Sozialbericht präsentieren, der - gestützt auf Steuerdaten - ein umfassendes Bild der wirtschaftlichen Situation der Berner Bevölkerung zeichnet. Er zeigt klar auf, dass Armut auch im Kanton Bern eine traurige Realität ist.

Ein weiterer Schritt erfolgte mit dem zweiten Sozialbericht, der im letzten Dezember erschienen ist. Dieser zweite Bericht hat die Ergebnisse des Berichtes von 2008 bestätigt und differenziert: Bestätigt wurde das Ausmass und die Risikogruppen der Armutsgefährdung. Differenziert wurde das Bild durch die Mehrjahresperspektive der Auswertungen: die Daten beziehen sich nicht nur auf ein bestimmtes Jahr, sondern zeigen die Entwicklung der wirtschaftlichen Situation der Berner Bevölkerung von 2001 bis 2008 auf.

Die beiden Berichte bilden zusammen eine fundierte Analyse, auf der sich eine umfassende Armutsbekämpfung aufbauen lässt.

Und eine solche umfassende Strategie zur Armutsbekämpfung ist dringend notwendig, und dies aus verschiedenen Gründen. Auf drei dieser Gründe möchte ich gerne näher eingehen:

- Erster Grund: Die Zahl der Armen steigt

Im Kanton Bern leben 35'000 Haushalte in Armut, weitere 22'000 leben in einer prekären finanziellen Situation und sind armutsgefährdet. In diesen rund 57'000 Haushalten leben 97'000 Personen, darunter 24'000 Kinder. Dies ist der traurige Höchstwert einer Entwicklung, die seit 2001 nur in eine Richtung zeigt: nach oben! Denn: Zwischen 2001 und 2008 ist der Anteil armer und armutsgefährdeter Personen stetig von 10.8 auf 12.5 Prozent gestiegen, und zwar unabhängig von der konjunkturellen Lage. Ein Rückgang der Quote ist zu keiner Zeit zu beobachten. Auch während den konjunkturell guten Jahren zwischen 2003 und 2008 stagnierte oder stieg der Anteil armutsbetroffener Menschen.

Diese Aussage gilt unabhängig davon, welche Armutsdefinition zu Hilfe genommen wird. Sie bestätigt sich anhand aller gängiger Armutsmasse. Der Sozialbericht stützt sich auf die relative Armutsdefinition, die sich am mittleren Einkommen orientiert: demnach ist arm, wer weniger als die Hälfte des mittleren Einkommens hat; und armutsgefährdet ist, wer mit we-niger als 60 Prozent des mittleren Einkommens auskommen muss.

In Franken ausgedrückt heisst das: arm ist, wer im Jahr weniger als rund 23‘000 Franken zur Verfügung hat; armutsgefährdet ist, wer mit weniger als knapp 28‘000 Franken auskommen muss.

Der konjunkturunabhängige Anstieg der Zahl armutsbetroffener Personen ist ein Zeichen dafür, dass die positiven Auswirkungen von konjunkturellen Aufschwüngen nicht alle Bevölkerungsschichten erreichen. Das zeigt, meine Damen und Herren, dass Armut nicht in erster Linie ein konjunkturelles Problem ist, sondern auch strukturelle Ursachen hat.

- Zweiter Grund: Die Ärmsten werden immer ärmer

Die Einkommen entwickelten sich zwischen 2001 und 2008 sehr unterschiedlich: Die oberen Einkommensschichten konnten ihre Einkommen halten oder gar leicht steigern, während die Einkommen der ärmsten 10 Prozent der Haushalte um 20 Prozent sanken. Wie ist diese markante Entwicklung zu erklären?

Für die untersten Einkommen ist der Zugang zum Arbeitsmarkt in den letzten Jahren zu-nehmend schwieriger geworden, wiederum unabhängig von der allgemeinen konjunkturellen Lage. Personen mit einem geringen Erwerbseinkommen sind häufig Personen mit geringen beruflichen Qualifikationen, die den strukturellen Wandel auf dem Arbeitsmarkt besonders hart zu spüren bekommen. Dieser hat insbesondere dazu geführt, dass Arbeitsstellen für niedrig qualifizierte Personen wegrationalisiert wurden, während die beruflichen Qualifikationsanforderungen der verbleibenden Stellen kontinuierlich gestiegen sind. Das Auseinanderdriften von arm und reich ist eine grosse Herausforderung für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft.

- Dritter Grund: Jugendliche sind besonders stark von Armut betroffen:

Die Jugendarmut ist in zweierlei Hinsicht äusserst bedenklich:

- Die Sozialhilfequote von Jugendlichen liegt höher als bei älteren Personen.

- Die Hälfte der Jugendlichen in der Sozialhilfe haben keine berufliche Ausbildung.

Das Fehlen der beruflichen Ausbildung ist besonders problematisch, weil diese eine zen-trale Voraussetzung für eine nachhaltige Integration in den Arbeitsmarkt ist und für Jugendliche meist langfristige Folgen hat. Verpasste Bildungsmöglichkeiten können im Erwachsenenalter nämlich oft nur noch mit einem beträchtlichen finanziellen und zeitlichen Aufwand nachgeholt werden. Sie sind daher oft der Anfang einer prekären Berufslaufbahn. Zudem verpassen Jugendliche und junge Erwachsene, die nach der obligatorischen Schule durch die ‚Maschen‘ fallen, oft nicht nur die Bildung, sondern durchlaufen auch persönlich und sozial einen regelrechten Desintegrationsprozess. Dieser erschwert die soziale und berufliche Integration zusätzlich.

Deshalb darf Jugendarmut nicht nur im Zusammenhang mit steigenden Sozialhilfequoten und -kosten ein Thema sein. Jugendarmut ist ein gesellschaftspolitisch wichtiges Problem, das ganzheitlich angegangen werden muss.

Welches Fazit ziehe ich aus diesen Ergebnissen?

Armut ist auch im Kanton Bern eine traurige Realität. Eine Realität, die ich als Bürger, als Poli-tiker, als Fürsorgedirektor nicht hinnehmen will und kann. Daher habe ich bei der Veröffentlichung des 1. Sozialberichts im Dezember 2008 das Ziel formuliert, die Armut innert 10 Jahren zu halbieren. An diesem Ziel halte ich auch heute, zweieinhalb Jahre später, fest, auch wenn – oder vielmehr: gerade weil – die wirtschaftlichen und finanziellen Umstände in den letzten beiden Jahren nicht günstiger geworden sind, weil auf die Finanzkrise eine Schuldenkrise gefolgt ist, die den finanziellen Druck auf die Wirtschaft und die sozialen Sicherungssysteme zweifellos erhöhen wird. Dass wir diesen Weg, mag er auch noch so steinig und lang sein, gemeinsam gehen, sind wir all denjenigen Personen schuldig, die tagtäglich mit Armut konfrontiert sind.

Wie erreichen wir dieses Ziel?

Armut verhindern und bekämpfen: ein Auftrag an die Sozialpolitik…:

Es ist der Kernauftrag des Sozialstaates, Personen zu unterstützen, die ihre Existenz nicht aus eigener Kraft sichern kön-nen. Die Sozialberichte zeigen auf, dass ein wachsender Anteil Personen genau auf diese Unterstützung des Sozialstaates angewiesen ist. Die steigende Zahl an bedürftigen Menschen führt logischerweise auch zu steigenden Fallzahlen und Kosten in den Systemen der sozialen Sicherheit. Im Einzelnen hat dies zur Folge, dass der politische und finanzielle Druck auf die Leistungen steigt. Diesem Druck kann nur eine solide, breit abgestützte gesetzliche Grundlage Stand halten, wie wir sie im Kanton Bern mit dem Sozialhilfegesetz haben. Ein Gesetz, das dank seiner inhaltlichen Breite die Grundlage legt für eine umfassende Sozialpolitik. Ein Gesetz, das auch im interkantonalen Vergleich zeitgemäss und sachgerecht ist und um das mich viele meiner Amtskolleginnen und Amtskollegen in anderen Kantonen beneiden. Rückblickend kann ich sagen, dass sich das Gesetz, das seit 2002 in Kraft ist, bewährt hat. Mit der Teilrevision, die anfangs Jahr vom Grossen Rat verabschiedet worden ist, wurde das Gesetz in seinem Grundsatz bestätigt. Gleichzeitig wurden einzelne Feinkorrekturen vorgenommen, um Fehlanreize zu beseitigen, die Qualität des Systems weiter zu verbessern und das Vertrauen in die Sozialhilfe als bedeutsame kantonale Sozialleistung zu stärken. Eine Stärkung, die dringend notwendig ist, da die kantonalen Bedarfsleistungen stark unter Druck stehen. Denn ...

- Verschiedene gesetzliche Anpassungen und Praxisverschärfungen in der Invaliden- und in der Arbeitslosenversicherung führen zu einem allgemeinen Leistungsabbau oder erschwerten Zugangsbedingungen. Dadurch verlagert sich der sozialpolitische Grundauftrag der Existenzsicherung immer stärker von den Sozialversicherungen auf die kantonalen Bedarfsleistungen.

- Der Sozialstaat muss Lasten tragen, deren Ursachen er nicht beeinflussen kann. Denn zentrale Ursachen der Armut liegen in Lebensbereichen wie Bildung, Wirtschaft, Gesundheit oder Familie, auf welche der Sozialstaat keinen oder nur einen begrenzten Einfluss hat. Der Sozialstaat kann viel dazu beitragen, bereits bestehende Armut zu bekämpfen oder zumindest zu lindern, doch um Armut präventiv zu verhindern, ist er auf die Zusammenarbeit mit anderen Politikbereichen angewiesen.

Und genau deshalb trägt mein Referat den Titel: Armut verhindern und bekämpfen: ein Auftrag an die Sozialpolitik, aber nicht nur:

Oft wird Armutsbekämpfung auf die Auszahlung von existenzsichernden Transferleistungen, wie die Sozialhilfe, reduziert. Dieses Verständnis führt zu Aussagen wie "Wer Sozialhilfe bezieht, ist nicht mehr arm". Doch wer dies behauptet, weiss wohl wenig von den Lebensumständen armutsbetroffener Menschen. Es ist, wie wenn man behaupten würde: Wer im Spital liegt, ist nicht krank, weil er medizinisch versorgt wird.

Armut beginnt vor dem Bezug von Transferleistungen: arm ist, wer seine Existenz nicht aus eigener Kraft sichern kann. Daher muss es das Ziel der Armutsbekämpfung sein, gerade in Zeiten knapper finanzieller Mittel, dass möglichst viele Personen ohne Transferleistungen auskommen. Prekäre Lebenssituationen, die zum gesellschaftlichen Ausschluss führen, müssen frühzeitig verhindert werden. Zudem muss alles daran gesetzt werden, dass Personen, die bereits in Armut leben, eine Chance bekommen, wieder den Schritt aus der Armut in die finanzielle Unabhängigkeit zu schaffen.

Eine ganzheitliche Strategie zur Bekämpfung der Armut muss daher Massnahmen der Prävention, der Existenzsicherung und der Integration umfassen, die über einen Politikbereich hinausreichen. Gerade in der Prävention und in der Integration spielen die bildungs-, wirtschafts-, gesundheits- und familienpolitischen Rahmenbedingungen eine tragende Rolle. Sie müssen so ausgestaltet sein, dass alle Personen ihre individuellen Ressourcen optimal für ihre Existenzsicherung einsetzen können. Finanzielle und beratende Leistungen der Sozialpolitik können noch wirkungsvoller und zielgerichteter werden, wenn sie durch entsprechende Rahmenbedingungen unterstützt werden.

Armut muss auch ausserhalb der Sozialpolitik als gesellschaftliches und wirtschaftliches Problem wahrgenommen werden, das uns alle angeht und das wir nur gemeinsam verhindern und bekämpfen können.

Was ist seit dem 1. Sozialgipfel geschehen?

"Gemeinsam" ist denn auch das Stichwort des heutigen Tages: es freut mich, dass Sie heute so zahlreich erscheinen sind, um gemeinsam mit uns allen über Massnahmen zur Armutsbekämpfung zu diskutieren. Doch bevor ich auf den heutigen Tag zu sprechen komme, möchte ich kurz zurückblicken und aufzeigen, was seit dem 1. Sozialgipfel vor gut 2 Jahren geschehen ist:

- Im August 2010 hat der Regierungsrat die Armutsbekämpfung als einen seiner Legislaturschwerpunkte der Regierungspolitik für die Jahre 2011-2014 erklärt.

- Im Dezember 2010 konnte ich den 2. Berner Sozialbericht der Öffentlichkeit vorstellen, der die Analyse des 1. Berichtes erweitert und vertieft. Auf dieser Grundlage beauftragte der Regierungsrat meine Direktion bis Ende 2012 einen umfassenden Massnahmenplan zur Armutsbekämpfung auszuarbeiten, der Massnahmen aus verschiedenen Politikbereichen aufzeigt. Der Regierungsrat hat drei Massnahmen bezeichnet, die er vertieft prüfen will:

• Beratungskette in der Begleitung Jugendlicher bis zu einer Anschlusslösung nach der Ausbildung: Falls junge Erwachsene aus eigener Kraft nicht in der Lage sind, eine Berufsbildung zu absolvieren, soll ihnen eine individuelle Betreuung und Begleitung helfen. Diese Massnahme knüpft an eine Empfehlung des 3. Lehrstellenberichts an, den die Erziehungsdirektion, die Volkswirtschaftsdirektion und meine Direktion gemeinsam erarbeitet und im November 2010 an der kantonalen Lehrstellenkonferenz präsentiert haben.

• Harmonisierung der Stipendien- und Sozialhilfeordnung: Die Stipendien und die wirt-schaftliche Sozialhilfe sind zu harmonisieren. Die 27 Prozent der jungen Erwachsenen in der Sozialhilfe, die in Ausbildung sind, weisen darauf hin, dass Stipendien und Sozialhilfe nur ungenügend aufeinander abgestimmt sind.

• Neuausrichtung der im Sozialhilfegesetz verankerten Konsultationskommission: Das geltende Sozialhilfegesetz sieht bereits heute eine Kommission vor, um Regierung und Verwaltung in Fragen der Sozialhilfe zu beraten. Diese Kommission soll neu ausgerichtet werden, nämlich zu einer "Kommission für Sozial- und Existenzsicherungspolitik". Damit soll dem Umstand Rechnung getragen werden, dass Armut ein typisches Querschnitts-thema ist, dessen Behandlung Massnahmen in verschiedenen Politikfeldern erfordert.

Was sind die Ziele des heutigen 2. Sozialgipfels?

Die Ausgangslage des heutigen Sozialgipfels ist eine andere als vor zwei Jahren: Heute haben wir die Analyse auf dem Tisch und die fachliche sowie politische Diskussion über Armut im Kanton Bern ist angestossen. Auf dieser Grundlage liegt für mich das Ziel des heutigen Tages darin, konkrete Massnahmenvorschläge zusammen zu tragen und zur Diskussion zu stellen. Wir haben bewusst darauf verzichtet, ein bestimmtes Handlungsfeld in den Vordergrund zu stellen. Der breite Ansatz soll aufzeigen, dass Armut uns alle angeht und dass uns nur Lösungsansätze einen Schritt weiterbringen, die verschiedene Politikbereiche umfassen.

Die heutige Diskussion wird Eingang finden in die Erarbeitung des Massnahmenplans, welcher der Regierungsrat Ende 2012 vorlegen wird. Dieser Massnahmenplan soll aufzeigen, wie Armut in unserem Kanton verhindert und bekämpft werden kann. Es geht nicht darum, die Armutsbekämpfung neu zu erfinden, denn der Kanton Bern unternimmt ja bereits heute einiges gegen Armut. Es geht vielmehr darum, bestehende und neue Massnahmen aus verschiedenen Politikbereichen zu einer konsolidierten und verbindlichen Massnahmenplanung zusammenzubringen.

Quelle: Text Kanton Bern, Gesundheits- und Fürsorgedirektion, August 2011

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Zahlen, Fakten und Analysen: Kernaussagen aus dem Sozialbericht 2010
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