Die islamische Revolution des Iran liess sich nicht exportieren; die Regierung des türkischen Islamistenführers Erbakan blieb ein kurzlebiges Experiment; in der arabischen Welt ist es, von Saudi-Arabien abgesehen, dessen traditionalistischer Staatsislam keineswegs das Modell heutiger islamistischer Bewegungen abgibt, gerade mal im Sudan gelungen, ein islamistisches Regime zu errichten; und der blindwütige Terror der algerischen Groupes islamiques armées (GIA) oder einzelner ägyptischer Gruppen drückt vor allem die politische Erfolglosigkeit dieser Form des militanten Islam aus. Gleichzeitig zeigt sich aber auch eine andere Realität: Die Islamische Republik Iran hat Krieg und internationale Isolationsversuche überlebt, sie hat, wie die Staatspräsidentenwahlen von 1997 zeigten, politische Korrekturmechanismen ausgebildet und sich insgesamt zum pluralistischsten System am Golf entwickelt; in verschiedenen Staaten der Region sind islamistische Gruppen fest ins politische System integriert; in den meisten arabischen Ländern haben islamistische Parteien - oder hätten bei einigermassen freien Wahlen - eine Wählerbasis von 15 bis 30 Prozent oder mehr. Sie sind damit in jedem Fall ein ernstzunehmender politischer Faktor und dürften es auf einige Zeit bleiben. "Politischer Islam" und "Islamismus" werden in diesem Beitrag als austauschbare Begriffe behandelt.
Es gibt nicht den einen, über Zeit und Raum immer gleichen Islam. Zweitens, der Islam ist wie das Christentum oder andere Religionen als solcher auch kein Akteur, er "macht" keine Geschichte, und er determiniert auch nicht eine bestimmte Politik. Es empfiehlt sich nicht vom "Islam" zu sprechen, sondern von den Muslimen in dieser oder jener Weltgegend, in dieser oder jener historischen Epoche. Es gibt deshalb auch nicht nur einen politischen Islam, sondern ein Spektrum islamistischer Bewegungen, deren wesentlicher gemeinsamer Nenner ist, dass sie den Islam als einzige Quelle ihrer ethischen und politischen Orientierung betrachten.
Was sich allgemein sagen lässt, ist, dass die politisch-islamischen Bewegungen, mit denen wir es gegenwärtig zu tun haben, keineswegs, wie gelegentlich noch kommentiert wird, einen "Bruch mit der Moderne" anstreben. Richtiger ist, dass diese Gruppen aus einem von vielen politischen Bewegungen geteilten "Unbehagen in der Moderne" handeln, dass sie ihre Gesellschaften um viel Errungenschaften dieser Moderne betrogen sehen und dass sie sich in ihrer Ideologie bemühen, eine Verbindung zwischen diesen Errungenschaften, den technischen wie den politischen, und dem islamischen Erbe ihrer Gesellschaften herzustellen. Politisch-islamische Bewegungen sind auch nicht notwendig antiwestlich. Die seit Anfang der 90er Jahre so oft wiederholte Behauptung vom unvermeidlichen Zusammenstoss zwischen "Islam" und "Westen" ist ein Mythos, welcher, je nach Standpunkt, vom Lager derjenigen im Westen, die die islamische Welt zum neuen Feind erklären wollen, und von denjenigen in den muslimischen Staaten, die eine Konfrontation mit nicht-muslimischen, insbesondere westlichen Staaten suchen, beschworen wird. Das islamistische Bild vom Westen zeigt vor allem Werteverfall, moralische Dekadenz und übertriebenen Individualismus; "Verwestlichung" beinhaltet aus islamistischer Sicht die Gefahr eines moralischen Verfalls der eigenen Gesellschaften. Darüber hinaus jedoch ist die islamistische Kritik am Westen im wesentlichen politisch, und diese Kritik unterscheidet sich allenfalls in Nuancen von der nationalistischer oder linker Kräfte: Sie verweist auf europäischen Kolonialismus, auf wirtschaftliche, politische und militärische Abhängigkeiten, auf die Zusammenarbeit westlicher Regierungen mit den Diktatoren der arabischen Welt und vor allem auf die westliche, insbesondere amerikanische Unterstützung Israels. Moderate Vertreter des politischen Islam weisen gleichzeitig darauf hin - nicht anders als besonnene Kräfte im Westen -, dass die Existenz unterschiedlicher Kulturen und dass auch politische und wirtschaftliche Interessenkonflikte Dialog, Ausgleich und Zusammenarbeit keineswegs unmöglich machen.
Eine Reihe arabischer Regime hat erkannt, dass weitere wirtschaftliche Reform soziale Faktoren stärker berücksichtigen und insbesondere mit gezielter Armutsbekämpfung einhergehen muss. Eine solche Neuorientierung, die zur allgemeinen politischen Entspannung beitragen könnte, dürfte sich insbesondere in den Ländern durchsetzen, die bereits einen einigermassen erfolgreichen makroökonomischen Anpassungsprozess vollzogen haben - Tunesien und Marokko etwa. Staaten, die den grössten Teil notwendiger wirtschaftlicher Reform noch vor sich haben, wie Syrien oder Libyen, dürften den sozialen Effekten vermutlich erst verspätet Rechnung tragen; das soziale Konfliktpotential in diesen Ländern könnte deshalb noch wachsen. Die internationalen Partner dieser Staaten werden ihrerseits darauf achten müssen, nicht nur wirtschaftliche Anpassungsleistungen zu verlangen, sondern eine nachhaltige Entwicklung zu unterstützen, die Armut reduziert und Arbeit schafft. Islamismus bezeichnet ein breites politisches Spektrum. Mit einiger Vereinfachung lässt sich von drei Gruppen sprechen: vom
islamistischen Mainstream, Zudem sind die diversen islamistischen Gruppen sehr deutlich das Produkt der spezifischen politischen Verhältnisse und der politischen Kultur ihres jeweiligen Landes: eine islamistische Internationale gibt es, trotz vieler Gemeinsamkeiten, nicht; der politische Referenzrahmen der meisten Gruppen ist der einzelne Nationalstaat. Den auf lange Sicht bedeutendsten Teil des politischen Islam dürften jene Gruppen und Parteien ausmachen, die man dem islamistischen Mainstream zuordnen kann. Dazu gehören unter anderem die jordanischen, ägyptischen und syrischen Muslimbrüder, die tunesische Nahda-Partei, die jemenitische Islah und auch, zumindest zum überwiegenenden Teil, die algerische FIS, die palästinensische Hamas und seit einiger Zeit die libanesische Hizbullah. Ihrer gesellschaftlichen Verortung und politischen Ideologle nach sind diese Gruppen konservativ. Sie haben ihre soziale Basis vor allem im Mittelstand, dem "Bazar", und im Kleinbürgertum, also bei Angestellten und Beamten, sowie bei einem Teil der Arbeiter- und Handwerkerschaft. Ihre politischen Aussagen entsprechen denen sozial-konservativer Bewegungen in anderen Weltregionen: sie sind im Grunde anti-liberal, anti-sozialistisch und einigermassen nationalistisch, sie treten für eine Wiederbelebung religiöser und moralischer Werte ein, letztlich für einen Staat, dessen Gesetzgebung den Geboten der Religion folgt, und für eine sozial verpflichtete Marktwirtschaft. Grundsätzlich sind diese Mainstream-Gruppen bereit, in den existierenden politischen Institutionen mitzuarbeiten; sie können bei freien Wahlen auf eine stabile Wählerbasis bauen; sie sind meist stark in den Berufsverbänden der ärzte und Ingenieure und in den Handelskammern vertreten; und sie sind die wesentlichen Träger einer islamischen Infrastruktur aus Schulen, Sozialeinrichtungen und Vereinen, die den politischen Verhältnissen entsprechend mit dem Staat kooperieren oder den Kern einer Gegengesellschaft bilden können. In Bürgerkriegssituationen und dort, wo die herrschenden Regime sie in den Untergrund gedrängt haben, haben einige dieser Gruppen militärische Flügel ausgebildet, doch zum Teil - deutlichster Fall ist hier die algerische FIS - haben sie die Kontrolle darüber verloren. Die palästinensische Hamas wie auch, seit dem Ende des Bürgerkriegs, die libanesische Hizbollah, haben durch den anhaltenden Konflikt mit Israel einen besonderen Charakter: Hamas repräsentiert eine starke Gruppe innerhalb der palästinensischen Gesellschaft, die zwar nicht jeden Friedensprozess, aber die Kompromissstrategie der palästinensischen Fatah-Bewegung ablehnt.
Anders als der konservative Mainstream und der traditionalistische Staatsislam besteht der militant extremistische Islamismus aus minoritären Gruppen - darunter die algerische GIA, die ägyptischen Jamaat Islamiyya und andere -, die in der Regel alle Hoffnung auf Reform aufgegeben haben, die herrschenden Regime verketzern, ihnen und oft auch der Bevölkerung den Krieg erklären und sich deshalb auch nicht um gesellschaftliche Zustimmung sorgen. Der übergang zum Banditentum ist, wie das algerische Beispiel zeigt, gerade unter anhaltenden Bürgerkriegsbedingungen fliessend. So diese extrem gewaltbereiten Gruppen noch eine politische Vision haben, ist es die eines kämpferischen islamischen Staates, der in der Nachfolge des Propheten und unter Leitung eines charismatischen Führers auf dem Wege Gottes gegen das Böse der Welt kämpft. Im allgemeinen stellen diese Gruppen zwar keine Bewegung der Marginalisierten dar, haben in diesem Sinne auch kein soziales oder wirtschaftliches Programm, rekrutieren aber einen nicht unwesentlichen Teil ihrer Mitgliedschaft aus Kreisen der Strukturanpassungsverlierer. Auch ein Zusammenhang zwischen sozialer Marginalisierung und Gewalt besteht zweifellos. Viele der Kader ägyptischer islamistischer Terrorgruppen sind schlecht ausgebildete junge Akademiker ohne Berufschancen, meist aus den ärmsten Provinzen des Landes. Ein Teil der Mitgliedschaft dieser Gruppen stammt ursprünglich aus dem islamistischen Mainstream; viele der mittlerweile etwas älteren, militärisch ausgebildeten Mitglieder gehören zu den sogenannten "arabischen Afghanen" - sind also ehemalige Freiwillige, die häufig mit Wissen und Zustimmung ihrer Regierungen, wie auch des Westens, in den Reihen afghanischer Islamisten kämpften, seit deren Machtübernahmein Kabul dort nicht mehr gebraucht werden und - zum Teil jedenfalls - beschlossen, den Kampf für einen islamischen Staat in den eigenen Ländern fortzusetzen.
Eine Reihe arabischer Regime hat erkannt, dass weitere wirtschaftliche Reform soziale Faktoren stärker berücksichtigen und insbesondere mit gezielter Armutsbekämpfung einhergehen muss. Eine solche Neuorientierung, die zur allgemeinen politischen Entspannung beitragen könnte, dürfte sich insbesondere in den Ländern durchsetzen, die bereits einen einigermassen erfolgreichen makroökonomischen Anpassungsprozess vollzogen haben - Tunesien und Marokko etwa. Staaten, die den grössten Teil notwendiger wirtschaftlicher Reform noch vor sich haben, wie Syrien oder Libyen, dürften den sozialen Effekten vermutlich erst verspätet Rechnung tragen; das soziale Konfliktpotential in diesen Ländern könnte deshalb noch wachsen. Die internationalen Partner dieser Staaten werden ihrerseits darauf achten müssen, nicht nur wirtschaftliche Anpassungsleistungen zu verlangen, sondern eine nachhaltige Entwicklung zu unterstützen, die Armut reduziert und Arbeit schafft.
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