Sozialhilfeempfänger, IV-Bezüger und verarmte Familien: Wird in den Medien über den Sozialstaat berichtet, so überwiegen die beunruhigenden Meldungen. Welches sind die Probleme der Soziale Sicherheit in der Schweiz und welche Lösungsmöglichkeiten gibt es? Diesen Fragen ist das Nationale Forschungsprogramm«Probleme des Sozialstaats» (NFP 45) nachgegangen. Die Ergebnisse machen deutlich, dass das System in seiner Gesamtheit verschiedene Defizite aufweist.
Eines der vier Module des NFP 45 nahm den Schweizer Arbeitsmarkt unter die Lupe. Mit der wirtschaftlichen Entwicklung der 1990er-Jahre hat sich in der Schweiz eine zunehmende Sockelarbeitslosigkeit gebildet, wie sie in anderen OECD-Ländern schon länger Realität ist. Insbesondere schlecht ausgebildete Personen, aber auch Frauen und Ausländer fallen am häufigsten aus dem Arbeitsmarkt heraus. Dabei handelt es sich oft um einen langen Prozess von wiederholter Arbeitslosigkeit und sich verschlechternder Arbeitsbedingungen, gegen die sich die Betroffenen meist vergeblich wehren. Die Analyse der Dossiers von«Working-Poor» - also von Leuten, die trotz Arbeit unter der Armutsgrenze leben - zeigt, dass zu schlechter Ausbildung und tiefem Lohn meist zusätzliche Schwierigkeiten kommen, wie Krankheiten oder Beziehungsprobleme. Ausserdem trifft die Langzeitarbeitslosigkeit vor allem Menschen über 50 Jahren, auch wenn das Risiko, die Stelle zu verlieren, für Junge grösser ist als für ältere. Auf der anderen Seite hat das NFP 45 gezeigt, dass der Schweizer Arbeitsmarkt flexibel ist: Wer sich weiterbilden und seine Stelle wechseln will, ist nicht in einem bestimmten Tätigkeitsfeld«gefangen». Ausserdem ist der Arbeitsmarkt nicht segmentiert, das heisst, es gibt keine Zweiteilung in einen Bereich mit gut entlöhnten Stellen und einen anderen Bereich mit unsicheren, schlecht bezahlten Jobs. Schliesslich hat sich gezeigt, dass die Arbeitsplatzunsicherheit in den 1990er-Jahren zwar im Baugewerbe, im Gastgewerbe und in der IT-Branche angestiegen ist, aber nicht generell höher wurde. 3 Das heisst, dass zielgerichtete Massnahmen zur beruflichen Wiedereingliederung Arbeitslosen eine reelle Chance bieten, den Anschluss an den Arbeitsmarkt zu finden. Als wichtigste Herausforderung für die Schweizer Politik der nächsten Jahre können deshalb folgende Punkte gelten: Je länger jemand arbeitslos ist, desto schwieriger wird die Integration. Es müssen deshalb Massnahmen gefunden werden, welche die Dauer der Arbeitslosigkeit so stark wie möglich senken. Wichtig ist dies vor allem auch hinsichtlich der wachsenden Konkurrenz aus dem europäischen Raum. Die Massnahmen sind umso erfolgreicher, je besser sie auf die persönliche Situation der Betroffenen zugeschnitten sind. Die Massnahmen müssen auch präventiv sein, und sie sollten schon ansetzen, bevor jemand seine Stelle verloren hat, also bei der gezielten Förderung der Aus- und Weiterbildung. Es braucht mehr Arbeitsanreize für unterstützungsbedürftige Personen. Die progressive Reduktion von Unterstützungsleistungen ist effizienter als ein System, bei dem Beiträge ab einer bestimmten Höhe eingestellt werden. Es muss attraktiver werden, über 50-jährige Arbeitnehmer zu beschäftigen,
und im Fall von Arbeitslosigkeit sollte ihre Rückkehr in den Arbeitsmarkt
gefördert werden. Das Steigen des Einkommens mit zunehmendem Alter
hat zur Folge, dass der Lohn höher werden kann als die Produktivität.
Hier spielen auch die Lohnkosten für die Sozialversicherungen eine
Rolle: Sie sind bei der beruflichen Vorsorge für über 55- jährige
Männer und für über 52-jährige Frauen mehr als doppelt
so hoch als bei 25- bis 35-Jährigen.
Mit dem NFP 45 sind in der Schweiz zum ersten Mal systematisch Daten zur Lebenssituation von Menschen mit Behinderung erhoben worden.4 Dass es diesbezüglich eine Lücke gab, war bei den Vorarbeiten zum Gleichstellungsgesetz klar geworden, das 2004 in Kraft trat. Ausserdem haben sich verschiedene Studien mit der Situation der IV befasst.5 Dabei wurde klar, dass es nicht in erster Linie die Art der Behinderung ist, welche die Lebensumstände der Betroffenen beeinflusst. Entscheidend ist vielmehr, ob und wie jemand vor der Behinderung beruflich tätig war. Die Studien zeigen auch, dass die Reduktion einer Rente beim Wiedereintritt ins Erwerbsleben von den Betroffenen als Strafe aufgefasst wird und zusätzliche Verunsicherung verursacht. Bei beginnender Invalidität sollten möglichst frühzeitig Massnahmen ergriffen werden, damit die betroffene Person ihre Stelle behalten, respektive ihre Arbeit so bald wie möglich wieder aufnehmen kann. Die Ergebnisse des NFP 45 zeigen allerdings, dass es auch Fälle gibt, wo erst eine Rente die Situation stabilisieren kann. Dies ermöglicht es, anschliessend wieder eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen. Die Ergebnisse zeigen einmal mehr, wie schwierig es ist, Arbeitsplätze für Personen mit Behinderung zu finden. Erfolg versprechend sind Modelle, bei denen nicht nur die Betroffenen selbst, sondern auch aktuelle und potentielle Arbeitgeber unterstützt werden. Die kantonalen Unterschiede bei den Quoten der IV-Bezüger können
nur zu zwei Dritteln mit objektiven Gründen erklärt werden. Das
restliche Drittel dürfte mit der Arbeitsweise der kantonalen IV-Stellen
zu tun haben. Das NFP 45 empfiehlt daher eine Systemsteuerung nach einheitlichen
Kriterien. Von einer Zentralisierung der IV-Stellen ist hingegen abzuraten.
Wie kann die wachsende Gruppe von Arbeitslosen wieder auf den Arbeitsmarkt zurückgeholt werden? Verschiedene Studien aus dem NFP 45 zeigen, dass die bisherigen Massnahmen zur beruflichen Wiedereingliederung nur bedingt erfolgreich sind. Zum einen liegt dies daran, dass ausgerechnet jene Arbeitsstellen rar sind, die zur (Re-)Integration von schlecht qualifizierten Personen notwendig wären. Zum andern gibt es aber auch zahlreiche strukturelle und finanzielle Probleme in den verschiedenen Sicherungssystemen. Eines der grundsätzlichen Probleme bei den Regionalen Arbeitsvermittlungszentren (RAV) besteht darin, dass die Berater ihre Klienten gleichzeitig unterstützen und überwachen müssen. Dies erschwert den Aufbau eines Vertrauensverhältnisses, das für eine erfolgreiche Wiedereingliederung nötig wäre. In der Sozialhilfe sind die Mittel teilweise so knapp, dass nur noch Leistungen ausbezahlt, aber kaum Beratung und Integrationsmassnahmen angeboten werden können. Dazu kommt, dass die Beschäftigungsprogramme der Sozialhilfe zwar die soziale Integration der Betroffenen fördern, aber kaum auf die Verbesserung der beruflichen Qualifikation ausgerichtet sind. Es hat sich aber auch gezeigt, dass qualifizierende Integrationsmassnahmen für Arbeitslose durchaus erfolgreich sein können, wenn sie auf die Betroffenen zugeschnitten sind. In der Invalidenversicherung gelingt eine berufliche Wiedereingliederung insgesamt nur selten (siehe auch Absatz «Situation der IV und Lage der Behinderten»). Als erfolgreich erwiesen haben sich allerdings die Modelle der begleiteten Beschäftigung («Job Coach») und zwar selbst bei schwerer psychischer Behinderung. Solche Massnahmen existieren heute an verschiedenen Orten, sie werden allerdings nicht systematisch eingesetzt und sind sehr aufwändig. Schliesslich zeigt der Blick auf das gesamte System, dass sich zwar mit der Interinstitutionellen Zusammenarbeit (IIZ) zwischen ALV, IV und Sozialhilfe bei den Abklärungsmassnahmen zunehmend eine Kooperation etabliert hat. Bei den Massnahmen zur Integration fehlt allerdings eine solche Zusammenarbeit. Auch ein Austausch über Erfahrungen und Ergebnisse findet kaum statt. Als besonders nachteilig erweist sich dies bei der kantonal oder kommunal organisierten Sozialhilfe mit ihrem kleinräumigen Aufbau. Die
Ergebnisse machen klar, dass die Integration verstärkt vorangetrieben
werden muss. Erstens müssen Massnahmen zur Wiedereingliederung auf
die individuelle Situation und die Bedürfnisse der Betroffenen abgestimmt
sein. Zweitens ist die Professionalisierung der Programme und die bessere
Koordination zwischen den verschiedenen Teilsystemen nötig. Dies erfordert
zwar zusätzliche finanzielle Mittel, doch jede Person, die erfolgreich
integriert werden kann, senkt längerfristig die Kosten, die im Sozialsystem
anfallen. Genau diesen Weg schlägt der Bundesrat denn auch im Rahmen
der 5. IVRevision vor: Jährlich sollen dabei durchschnittlich 780
Millionen Franken in Integrationsmassnahmen investiert werden, was die
Zunahme der Renten bremsen und längerfristig zu tieferen Kosten führen
soll.
Es stellt sich allerdings die Frage, ob am bestehenden System nicht grundsätzliche änderungen vonnöten sind. So wie die Sozialhilfe und andere kantonale oder kommunale Bedarfsleistungen heute ausgestaltet sind, bieten sie nur geringe finanzielle Anreize für die Aufnahme oder Ausdehnung einer Erwerbstätigkeit. Im NFP 45 wurden verschiedene Alternativen zum heutigen System untersucht: Das
Integrationseinkommen:
Bei der Sozialhilfe liegt eines der Grundprobleme im Zielkonflikt zwischen Armutsbekämpfung, Arbeitsanreiz und Kosten: Sollen bei einem steigenden Einkommen die Beiträge nur bis zu einer bestimmten Einkommensgrenze ausbezahlt werden? Oder soll die Unterstützung länger gewährt und dabei allmählich reduziert werden? Im letzteren Fall ist zwar der Arbeitsanreiz hoch, aber auch der Kreis der Bezüger wird grösser, womit wiederum die direkten Kosten steigen. Werden die Leistungen hingegen nur dazu benutzt, die Lücke zwischen Einkommen und Armutsgrenze zu schliessen, sinkt der Arbeitsanreiz. Dafür wird die Zahl der Bezüger kleiner, und die direkten Kosten fallen tiefer aus. Bei einem Vergleich der Alternativen zur heutigen Sozialhilfe verspricht das so genannte Integrationseinkommen die positivsten Auswirkungen. Laut der Modellrechnung würden alle Sozialhilfebezügerinnen und -bezüger, die einer Erwerbstätigkeit von mindestens 30 Stunden pro Woche nachgehen, einen Betrag von monatlich 500 Franken erhalten. Dabei sänke nicht nur die Armutsquote deutlich, auch die durchschnittlichen Einkommen würden steigen. Das Integrationseinkommen richtet sich allerdings nur an Personen, die eine Chance haben, eine Stelle zu finden. Das
Drei-Säulen-Modell für die Familienpolitik:
Das
Armutsrisiko ist für Familien besonders gross. Am höchsten sind
die«Working-Poor»- Quoten unter Alleinerziehenden und Familien
mit drei oder mehr Kindern. Die Kinderkosten werden heute hauptsächlich
von den Familien getragen, im Unterschied zu den Alterskosten. Die Kinderzulagen
sind nicht nur kantonal unterschiedlich geregelt, es gibt auch ungenügende
Arbeitsanreize, und der Unterschied zwischen hohen und tiefen Einkommen
wird kaum ausgeglichen. Abhilfe schaffen könnte ein Drei-Säulen-Modell,
das im Rahmen des NFP 45 entwickelt wurde: Es beruht erstens auf einer
Basissicherung aus Kinderzulagen und Steuergutschriften, zweitens auf Ergänzungsleistungen
und drittens auf Massnahmen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Dieses
Modell würde gleich viel Mehrkosten verursachen wie die im Mai 2004
an der Urne verworfene Reform der Familienbesteuerung, würde die Armutsquote
senken und dennoch die Arbeitsanreize aufrechterhalten.
Wird der Ausgleich der gesamten Sozialen Sicherheit betrachtet, dann fällt auf, dass die Mittel vor allem zwischen Erwerbstätigen und Nicht- Erwerbstätigen verteilt werden, aber kaum zwischen hohen und tiefen Einkommen. Mit anderen Worten: Wer sehr wenig verdient, bezahlt prozentual gleich viel ans Ausgleichssystem wie jemand mit sehr hohem Lohn. Grund dafür ist vor allem die berufliche Vorsorge. Hier spielen die Steuerabzüge für die Beiträge eine Rolle, die bei hohen Einkommen stark ins Gewicht fallen: Die Beiträge an die zweite Säule können im Extremfall heute einen Umfang von jährlich über 130'000 Franken erreichen. Sollen die Sozialleistungen deshalb auf die tiefen Einkommen beschränkt werden, damit die Umverteilung zwischen hohen und tiefen Einkommen verstärkt wird? Die Ergebnisse des NFP 45 zeigen, dass die Sozialversicherungen dank ihrem Universalismus - alle sind versichert, alle erhalten beim Eintritt des Risikos Leistungen - in der Bevölkerung stark verankert sind, im Unterschied etwa zur Sozialhilfe mit ihren Bedarfsleistungen.Es ist deshalb nicht ratsam vom Universalismus der Sozialversicherungen abzurücken. Die Umverteilung könnte jedoch bereits verbessert werden, wenn die Höhe der versicherbaren Einkommen - und damit auch die Beträge und Renten der überobligatorischen Vorsorge - auf ein sinnvolles Mass beschränkt würden. Die Umverteilung zwischen Erwerbstätigen
und Altersrentnerinnen und - rentnern wird durch die demografische Entwicklung
weiter verstärkt. Besonders betroffen werden die Jahrgänge von
1980 bis 2010 sein. Entlastet werden könnte diese Generationen durch
eine Finanzierung des Mehrbedarfs über die Mehrwertsteuer oder die
Erhöhung des Rentenalters. Allerdings stellt sich die Frage, wieweit
eine Rentenalterserhöhung Sinn macht, solange jüngere Personen
keine Stelle finden und Betriebe ihre Restrukturierungen mit Frühpensionierungen
abfedern .
Den Hintergrund des Nationalen Forschungsprogramms«Probleme des Sozialstaats » (NFP 45) bildete die wirtschaftliche, gesellschaftliche und sozialpolitische Entwicklung der1990er-Jahre. Sie stellte das System der Sozialen Sicherheit nicht nur vor neue Herausforderungen, sondern legte auch seine Mängel offen. Geprägt war die damalige Lage von vier Tendenzen, die sich gegenseitig verstärkten: der stagnierenden wirtschaftlichen Entwicklung, den bereits bekannten Lücken im System der Sozialen Sicherheit, der Entwicklung der Kosten im Gesundheitswesen und der politischen Forderungen nach der Gleichstellung von Behinderten. Diesen Problemfeldern entsprechend wurde das Programm in vier Modulen aufgebaut: Arbeitsmarkt/Arbeitslosigkeit, Sozialpolitik, Gesundheitswesen und Behinderung/ Invalidität. Ziel war es, in diesen Bereichen die Grundlagen für künftige politische Entscheide bereitzustellen. Das Programm wurde im April 1998 vom Bundesrat bewilligt, die Forschungsarbeiten begannen im Herbst 2000 und dauerten vier Jahre. Für die Durchführung der 35 Studien standen zehn Millionen Franken zur Verfügung. Ausgewählte Projekte aus dem NFP 45 wurden 2004 in den parlamentarischen Kommissionen vorgestellt. Verschiedene Ergebnisse sind bereits in politische Diskussionen und Entscheidungsprozesse eingeflossen. Beispiele sind die Vernehmlassung zur 5. IV-Revision, die neuen Richtlinien der Richtlinien der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) oder die Debatten um die Revision des Krankenversicherungsgesetzes und des Scheidungsrechts (Splitting des Guthabens der beruflichen Vorsorge). Offiziell abgeschlossen wird das NFP 45 mit einer Schlussveranstaltung am 11. März 2005. Nationale Forschungsprogramme leisten wissenschaftlich fundierte Beiträge zur Lösung dringender Probleme von nationaler Bedeutung. Die Themen werden vom Bundesrat bestimmt, für die Durchführung ist der Schweizerische Nationalfonds verantwortlich. Die Auseinandersetzung mit wichtigen Gegenwartsproblemen erfordert meist interdisziplinäre Forschungsansätze und eine enge Zusammenarbeit der Forschenden mit der Praxis. .
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