Einheimische Fische im Engadin und Puschlav unter Druck Ein internationales Forscherteam, unter Leitung des Wasserforschungsinstituts Eawag, der Universität Bern und des Naturhistorischen Museums Bern ist den Alpen- und Alpenrand-Seen im wahrsten Sinne auf den Grund gegangen. Systematisch wie nie zuvor wurden im «Projet Lac» die Fischbestände wissenschaftlich erfasst, so auch der Silsersee und der Lago di Poschiavo. Von 2010 bis 2014 wurden im Rahmen des «Projet Lac» insgesamt 26 Voralpenseen untersucht. Dabei wurden über 60 Fischarten inventarisiert. 2012 wurden in Zusammenarbeit mit dem Amt für Jagd und Fischerei des Kantons Graubünden auch der Silsersee im Engadin und der Lago di Poschiavo untersucht. Die jetzt vorliegenden Resultate aus diesen Seen zeigen, dass beide eine für die Fischerei attraktive Salmonidengemeinschaft aufweisen. Die historische Artenvielfalt beider Seen wurde jedoch stark durch die Einfuhr von Fischarten aus anderen Einzugsgebieten beeinflusst. Ausgesetzt wurden insbesondere Seesaiblinge, Namaycush (Kanadische Seeforelle) und Bachforellen aus mehreren anderen Einzugsgebieten. Genetische Analysen haben gezeigt, dass diese eingeführten Fische sich mit einheimischen Arten gekreuzt haben und dadurch grosse Verluste an Biodiversität eingetreten sind. So hat die ursprüngliche Poschiavo-Seeforelle ihre Eigenständigkeit weitgehend verloren, und von der Marmorforelle (Salmo marmorata) sowie der Adriaforelle (Salmo cenerinus) wurden im Lago die Poschiavo die wohl bald letzten Exemplare der Schweiz gefunden. Immerhin: Im Silsersee konnte sich eine einheimische Population von Schwarzmeerforellen (Salmo labrax) trotz des Besatzes mit atlantischen Forellen knapp halten. Auch sie kommen sonst nirgends mehr vor in der Schweiz. Forscher und Fischer fischen unterschiedlich Aus Sicht der Angelfischer haben die Seesaiblingsfänge im Silsersee in den letzten Jahren stark abgenommen, während die Fänge im Lago di Poschiavo nach dem Auftauchen des Seesaiblings anfangs der 2000er Jahre bis heute massiv zugenommen haben. So werden heute im Lago di Poschiavo fast fünfmal mehr Seesaiblinge gefangen als im Silsersee. Ein Ziel des Projektes war deshalb herauszufinden, wo sich die Seesaiblinge im Silsersee aufhalten und wieso die Population im Silsersee anscheinend so stark rückläufig ist. Interessanterweise zeigen die standardisierten Netzfänge ein anderes Bild als die Angelfischerfänge: Danach weisen die Seesaiblinge heute im Silsersee eine ähnliche Dichte auf wie im Lago di Poschiavo. Ein Bestandesrückgang der Seesaiblinge im Silsersee kann deshalb nicht oder nur teilweise als Ursache für die geringeren Fänge herangezogen werden. Auch die Grösse der Seesaiblinge aus beiden Seen war vergleichbar, was nicht auf ein geringeres Wachstum schliessen lässt. Es muss deshalb davon ausgegangen werden, dass die Fische im Silsersee schwieriger zu fangen sind als im Lago di Poschiavo. Das könnte zum Beispiel auf unterschiedliche Fressgewohnheiten in den beiden Seen zurückzuführen sein. Referenzzustand um spätere Veränderungen dokumentieren zu können Die standardisierten Aufnahmen im Rahmen des Projet Lac können als Referenz verwendet werden. Werden Umweltfaktoren der Seen verändert, zum Beispiel als Folge ihrer Nutzung für Pumpspeicherkraftwerke, kann später abgeschätzt werden, wie sie dies auf die Fischbestände ausgewirkt hat. Im Lago di Poschiavo zeigen die repräsentativen Abfischungen, dass die Forellen hauptsächlich im Litoral des Sees gefangen werden, also in den untiefen, ufernahen Zonen. Die Seesaiblinge bevorzugen eine Tiefe zwischen 20-40m. Die beiden für die Fischerei wichtigsten Fischarten bevorzugen damit Lebensräume, die durch eine mögliche Nutzung des Lago di Poschiavo für die Pumpspeicherung am stärksten beeinflusst würden: Die Uferbereiche würden durch ein regelmässiges Anheben und Absenken des Wasserspiegels oft trockengelegt. In einer Tiefe von 20-40m würde sich das Seewasser durch die Pumpspeichernutzung um bis zu 4°C erwärmen. Es muss deshalb davon ausgegangen werden, dass sich die Pumpspeicherung auf die Populationsgrössen der Fische des Lago di Poschiavo auswirken wird. Warum eine «Fisch-Inventur» Sinn macht Gemäss Fischereigesetz muss die Verbreitung der Fischarten in der Schweiz genau bekannt und dokumentiert sein. Auch die Wasserrahmenrichtlinie der EU kennt eine ähnliche Vorgabe. Die Experten müssten Statistiken führen, die zeigen, welche Arten besonders bedroht sind und daher Schutz benötigen. Doch tatsächlich ist über die Arten in den grösseren Seen Europas wenig bekannt. In den meisten Fällen sind Fischereistatistiken die einzigen verfügbaren Daten. Man weiss, welche Arten und wie viele Fische gefangen werden und wie viele ausgesetzt werden, die tatsächliche Vielfalt ist jedoch meist unbekannt. Deshalb wurde 2010 das «Projet Lac» gestartet, im Internationalen Jahr der Biodiversität. Mit dem Vorhaben wollen die Eawag, die Universität Bern und das Naturhistorische Museum der Burgergemeinde Bern mit weiteren internationalen Partnern Licht in die dunklen Seetiefen bringen. Systematisch und mit standardisierten Methoden werden die grösseren Seen der Alpen und des Alpenrands befischt, die gefundenen Arten bestimmt, vermessen und fotografiert sowie die Fangzahlen statistisch ausgewertet. «So konnten wir erstmals ermitteln wie hoch die Fischbiodiversität in den Seen heute wirklich noch ist», sagt der Projektleiter Prof. Ole Seehausen von der Eawag und dem Institut für Ökologie und Evolution der Universität Bern. «Ausserdem wollen wir herausfinden, wieso die Artenvielfalt und Artenzusammensetzung von See zu See teils sehr stark variiert und welche ökologischen Gründe zum Auftauchen oder Verschwinden von Arten führen.» Wissen über Werden und Vergehen von Arten unterstützt Schutzmassnahmen Ole Seehausen ist überzeugt, dass die Daten aus dem insgesamt rund 2,4 Millionen Franken kostenden Projekt den Schutz der Fischbiodiversität in Schweizer Gewässern fördern wird: «Unsere Ergebnisse geben zum Beispiel Hinweise, wie Uferrevitalisierungen oder die Aufwertung von Flachwasserzonen ausgeführt werden sollten, um die grösstmöglichen Erfolgsaussichten zu haben.» Das Projekt bringt Fachleute aus verschiedenen Nachbarländern zusammen, denn es geht letztlich nicht nur um wissenschaftliche Erkenntnisse, sondern darum, die Fischbestände der Seen der Alpen und des Alpenrandes für die Zukunft zu erhalten. Darüber hinaus wird am Naturhistorischen Museum Bern eine umfangreiche Sammlung von Fischen und Gewebeproben aufgebaut, die international als Referenz für zukünftige Forschungsarbeiten dienen wird.
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