Rede von Bundesrätin Doris Leuthard am Gedenkakt 1712 Villmergerkrieg und der Friede von Aarau, 11. August 2012 Wir treffen heute zusammen, um den Ereignissen vor 300 Jahren mit dem Zweiten Villmergerkrieg und dem Vierten Landfrieden von Aarau im Jahre 1712 zu gedenken. Ich danke dem Kanton Aargau, dass er die Initiative für diese Gedenkanlässe ergriffen hat. Denn beide sind zweifelsfrei wichtige Marksteine. Beiden Ereignissen kommt in der Geschichte der alten Eidgenossenschaft und auf dem Weg zur neuen Eidgenossenschaft eine landesweite Bedeutung zu. Bei beide interessieren mich als Politikerin die Menschen, die damaligen Zustände und das, was wir daraus lernen können. Erlauben sie mir einige diesbezügliche Ausführungen. Der christliche Glaube war im Mittelalter entscheidend und verbindlich dafür, wie die Welt verstanden werden sollte. Religiöses und Weltliches war untrennbar miteinander verbunden. Das zeigte sich an den Klöstern als wichtige Träger von Macht und ihren Niederlassungen auch im Aargau. Untrennbar mit den Klöstern verbunden waren Wissenschaft, Bildung, Schule aber auch die Krankenpflege. Das Volk musste Zinsen und Zehnten an Klöster oder deren Beamte abliefern. Der Zugang zu Bildung damals war schwierig, die wirtschaftliche Abhängigkeit gross. Deshalb zogen Viele - auch aus dem Aargau - vom 16. bis ins frühe 19. Jahrhundert als Söldner in fremde Kriegsdienste. Sie wollten der wachsenden Armut entfliehen. Unser Aargauerlied "Im Aargau send zwoi Liebi" erzählt von dieser damaligen Zeit, wenn ein "Jungmann zog zum Kriege". In diesem Umfeld, aus den ständigen religiösen Reibereien, entstand der Erste Villmergerkrieg. Und weil sich reformierte und katholische Toggenburger gegen den Abt von St. Gallen erhoben, wurde daraus 1712 der Zweite Villmergerkrieg. Leider war der Religionshass auch nach dieser wohl blutigsten Schlacht in der Geschichte des Aargaus nicht vorüber. An den Untertanenverhältnisse änderte sich nichts. Die Gleichheit der Menschen war nach wie vor ein Tabu. Auch der "Friede von Aarau" vom 11.August 1712 änderte vorerst nichts. Zwar war er ein Schritt zur Normalisierung. Aber die Sieger bestanden hart auf ihren Ansprüchen und auf der Landaufteilungen. Erst die Ideen der Aufklärung, die allmählich auch im Aargau auf fruchtbaren Boden fielen, förderten das gegenseitige Verständnis der Konfessionen, die Toleranz gegenüber Andersgläubigen. 1762 wurden diese Ideen mit der Gründung der Helvetischen Gesellschaft in Schinznach gesellschaftsfähig. 1762 löste Jean-Jaques Rousseau mit seinem Buch zum "Contrat social" eine kleine Revolution aus. Das Ende der Untertanenverhältnisse war absehbar. Beflügelt wurde dieser geistige Aufbruch breiter Schichten mit der französischen Revolution von 1789 und der Erklärung der Menschenrechte - aber auch mit der Gründung der Vereinigten Staaten von Amerika mit demokratischen, republikanischen Regeln. Der Aargau tat sich hervor als eine der ersten revolutionären Herde in der Eidgenossenschaft. Beflügelt wurden breite Schichten der Bevölkerung durch technologische Umwälzungen und den Zugang zu Bildung und Wissenschaft für alle. Der Zweite Villmergerkrieg und der "Friede von Aarau" haben auf diesem Entwicklungsweg eine wichtige Bedeutung. Wir können daraus auch für die heutige Zeit zwei wichtige Erkenntnisse ableiten - die friedliche Bewältigung von Konflikten; der breite Zugang zu Bildung. Zum ersten - zur friedlichen Konfliktbewältigung. Mit Gewalt lassen sich keine soliden Lösungen finden. Die Menschen haben damals erkannt, dass Schlachten vor allem negative Wirkungen zeitigen: Kein Motiv, weder religiös, noch ethnisch, noch machtpolitisch, vermag den Tod und das Leid für viele Familien rechtfertigen. Eine Macht löst einfach die andere ab. Das bringt keinen dauerhaften Frieden. Die Kosten der Kriege müssen wiederum die Menschen zahlen. Diese Erkenntnisse hatten im "Frieden von Aarau" zum ersten Mal Eingang gefunden; auch wenn es nach wie vor mit Machtdemonstration der Sieger verbunden war; auch wenn es danach zu weiteren Schlachten gekommen ist. Aber der Grundstein war gelegt für eine Kultur des Dialogs, des runden Tisches, des Suchens nach einvernehmlichen Lösungen statt gewalttätigen Akten. Gewalt zerstört. Aufbauend ist nur der Dialog. Die Eidgenossenschaft bis hin zum heutigen Bundesstaat hat diese Kultur der Konfliktbewältigung, des friedlichen Zusammenlebens der Kulturen, Religionen, Sprachen und Ethnien in den nachfolgenden Jahrhunderten optimiert und verfeinert und als Element des Staatswohls verinnerlicht. Nicht zuletzt haben diese Werte Eingang in die Präambel unserer Bundesverfassung gefunden: "Im Bestreben, den Bund zu erneuern, um Freiheit und Demokratie, Unabhängigkeit und Frieden in Solidarität und Offenheit gegenüber der Welt zu stärken, im Willen, in gegenseitiger Rücksichtnahme und Achtung ihrer Vielfalt in der Einheit zu leben...". In unserem Land der vier Sprachen, der verschiedenen Kulturen und in einem basisdemokratischen und föderalen Miteinander ist dieser konstruktive und weiterführende Dialog eine staatspolitische Notwendigkeit. Wenn wir miteinander reden, schlagen wir uns nicht die Köpfe blutig. Dann finden wir einen Weg aus Konflikten, meistern gemeinsam Herausforderungen und bieten den Menschen Halt und Orientierung. Mit dem Dialog bauen wir Brücken. Zum Dialog sind wir verpflichtet. Das macht uns erfolgreich. Dank dieser politischen Stabilität und der Sicherheit für Bürgerinnen und Bürger sind wir ein attraktives Land. Wir wollen mehr als nur den Sieg der Mehrheit gegenüber der Minderheit: Mehrheitsentscheide müssen minderheitsfähig sein. Wir wollen einen Föderalismus als institutionelle Sicherung von Minderheitsrechten - insbesondere kleiner Kantone. Diese Mechanik zu pflegen ist wichtig und unsere Pflicht. Leider lernt die Menschheit langsam. Und wie gefährlich dies ist, können wir täglich in den Nachrichten aus aller Welt vernehmen. Syrien, beispielsweise, ist weit entfernt von einem "Frieden à la Aarau". Und an vielen Orten dieser Erde herrscht noch immer Unterdrückung, Diktatur, Gewalt und Willkür - selbst wenn es gegen das eigene Volk gerichtet ist. Der Aufbau von Demokratien, von Grundrechten und Rechtsstaatlichkeit ist ein schwieriger Prozess und oft verbunden mit kriegerischen Wirren und Opfern. Die Schweiz hat gelernt. Wir bieten gute Dienste beim Lösen von Konflikten an und haben uns so einen Namen gemacht. Gepaart mit unserer Neutralität konnten wir immer wieder einen Beitrag zur friedlichen Beilegung von scheinbar unüberbrückbaren Konflikten leisten. Erinnern Sie sich an die Konflikte zwischen Georgien und Russland, zwischen der Türkei und Armenien. Denken Sie an unseren Beitrag im Rahmen des arabischen Frühlings beim Aufbau von Demokratien. Zum zweiten zum Zugang zur Bildung. Für mich ist die Öffnung der Bildung ein wichtiges Element aus der damaligen Zeit. Zu lange war dies ein Privileg der Kirchen und Klöster und damit einer elitären Schicht. Ein grosser Teil der Bevölkerung konnte weder lesen noch schreiben. Der Pfarrer verlas die Mitteilungen der Obrigkeit von der Kanzel herab. Daher gab es ein weites Feld zur Verbreitung der Bildung, die in der Helvetik vor allem im Aargau und durch Aargauer Bildungspioniere vorangetrieben wurde. Denn mit der Aufklärung realisierten die Menschen, dass ein Leben ohne Bildung diese Abhängigkeit unterstützt. Sie erkannten, dass eigenes Denken und Handeln dagegen mit einer Verbesserung der wirtschaftlichen Situation verbunden war. Der gewaltige Bildungsschub im frühen 19. Jahrhundert hat den Grundstein gelegt zum heutigen ausgeklügelten Bildungssystem der Schweiz. Auch hier hat sich der neue Kanton Aargau besonders verdient gemacht. Dieser Zugang zu Bildung für alle Kinder und Jugendlichen ist zu einem wichtigen Element des Erfolgsmodells Schweiz geworden. Unsere tiefe Jugendarbeitslosigkeit, um welche wir weltweit benieden werden, ist Ausdruck dieses Systems und seiner Wirkung. Jede und jeder kann entsprechend seinen Fähigkeiten eine Ausbildung absolvieren und damit den Grundstein legen für ein selbstbestimmtes, eigenständiges Leben. Wenn der Staat Eigenverantwortung fordert, wenn staatliche Leistungen subsidiär sein sollen - dann ist dies nur möglich, wenn man die Menschen auch befähigt, sich selber zu ernähren, ein Einkommen zu erzielen und somit ihr Leben selber in die Hand zu nehmen. Diese Errungenschaften sind noch nicht alt und wir müssen auch kommende Generationen überzeugen, wie nützlich Bildung ist. Ausbildung und Leistungsbereitschaft sind nötig, wenn wir unseren Wohlstand und unsere Freiheit bewahren wollen. Die derzeitige Lage in der Eurozone, wo Staaten mit einer Jugendarbeitslosigkeit von 20 bis 40%ige zu kämpfen haben, zeigt wie wichtig es ist, Perspektiven für die Jugend zu eröffnen und solid, mit Augenmass zu wirtschaften. Mit unserem föderalen System haben wir in der Schweiz starke Stände, starke Regionen. Der Wettbewerb unter Kantonen und Regionen bringt uns weiter. Und jeder Kanton soll seine Interessen anmelden, soll für sich kämpfen können. Aber Fairness, klare Spielregeln und ein friedliches Zusammenleben mit einem starken Bund, der die Gesellschaft Schweiz als Willensnation zusammenhält - das sind die Errungenschaften, an denen wir stets arbeiten müssen. Denn am Schluss braucht es die Solidarität unter den Kantonen, einen fairen Ausgleich aller Interessen. Sie sind die Grundsteine für ein friedliches und harmonisches Zusammenleben, das alle Bürgerinnen und Bürger in der Schweiz als gerecht empfinden. Wenn wir uns jene Zeit nehmen, die die Demokratie braucht, wenn wir Menschen und Institutionen kritisch-konstruktives Vertrauen entgegenbringen, dann haben wir aus dem Villmergerkrieg von 1712 wirklich etwas gelernt. Wenn wir bereit sind, nach harten Abstimmungsschlachten von Angesicht zu Angesicht gemeinsam tragfähige Lösungen für das Land zu erarbeiten, dann war Villmergen nicht umsonst. Villmergen darf nie umsonst gewesen sein - bei uns in der Schweiz nicht, überall auf der Welt nicht. In Erinnerung an den Frieden von Aarau - setzen wir uns gemeinsam für Freiheit, Gleichheit und Toleranz ein - auch für religiöse Toleranz.
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