|
Armut
in der Schweiz |
|
|
Armut Schweiz |
|
|
Armut Schweiz |
|
Sozialstaat
Schweiz: Armut und Sozialpolitik
|
Vom
sozialpolitischen Versagen des Schweizer Bildungssystems
|
|
|
Wird
gefragt, wie viele Arme es heute in der Schweiz gibt, fällt die Antwort
nicht schwer, auch wenn präzise Statistiken fehlen. Aus der Nationalen
Armutsstudie sowie verschiedenen kantonalen Untersuchungen wissen wir,
dass rund 10 bis 12 Prozent der WohnBevölkerung als arm bezeichnet
werden müssen. |
Eine
ganz andere Frage ist es aber, wie viele Menschen in den letzten drei,
fünf oder zehn Jahren Erfahrungen von Verarmung machen mussten oder,
positiv gewendet, wie viele Menschen in den vergangenen Jahren Wege aus
der Armut fanden. Darüber haben wir in der Schweiz nur wenige Informationen.
Erste Ergebnisse aus dem Schweizerischen Haushaltspanel zeigen, dass von
einer hohen Fluktuation zwischen dem Status "arm" und "nicht-arm" ausgegangen
werden kann, dass aber gut 10 Prozent der Haushalte auf Dauer den übergang
in die vollständige und dauerhafte Nicht-Armut schaffen. Alle anderen
verbleiben in prekären Lebenslagen knapp über der Armutsgrenze.
Die
erste Frage, die Frage nach dem Ausmass also, lehnt sich an Querschnittsanalysen
an. In solchen Untersuchungen vergleicht man Arme und Nicht-Arme und beschreibt
dann die sozio-ökonomischen Merkmale, die Arme in hohem Masse aufweisen.
So zeigt es sich, dass alleinerziehende Frauen mit einem tiefen Bildungsniveau,
möglicherweise noch aus dem Ausland stammend, aber auch Familien mit
mehr als zwei Kindern oder alleinlebende Männer ein besonders hohes
Risiko aufweisen, zur den armutsbetroffenen Gruppen der Bevölkerung
zu gehören.
Einseitige
Armutsdiskussion |
|
|
Die
zweite Frage oder die Frage nach den Erfahrungen der Armut orientiert sich
an Längsschnittanalysen, die sich stärker mit Thesen darüber
auseinandersetzen, wie Armut zustande kommt, wie lange Armutsphasen andauern
und welche Faktoren aus Armut wieder herausführen. |
|
Solche
Studien verweisen auf kritische Ereignisse in Biografien, die in besonderem
Masse das Verarmungsrisiko beeinflussen, etwa der übergang von der
Ausbildung zum Berufsleben, die Familiengründung, aber auch der Verlust
des Arbeitsplatzes oder eine Trennung in einer Beziehung. Umgekehrt kann
der Auszug eines erwachsenen Kindes aus der Familie oder die Aufnahme einer
Erwerbsarbeit durch die Frau zu einer nachhaltigen Verbesserung der Einkommenssituation
eines armutsbetroffenen Haushaltes führen. Es zeigt sich, dass Frauen
deutlich stärker und häufiger als Männer aufgrund solcher
Ereignisse in ihren Biografien in Armut geraten.
Bis
heute orientiert sich die Diskussion über Armut in der Schweiz sehr
stark am ersten, eher statischen Modell. Gefordert werden zu Recht bessere
Unterstützungsleistungen für alleinerziehende Mütter oder
Working-Poor-Familien, um diesen Haushalten ein Leben ohne Armut und ohne
sozialen Ausschluss zu ermöglichen. Dazu gehören höhere
Kinder- und Familienzulagen ebenso wie Ergänzungsleistungen für
bedürftige Familien oder der Ausbau der familienergänzenden Angebote
zur Kinderbetreuung.
Diese
Sicht der Dinge genügt aber nicht, wenn sich die Armutspolitik auch
zum Ziel macht, bereits die Entstehung von Armut zu bekämpfen. Caritas
Schweiz fordert darum eine neue Armutspolitik, die sich verstärkt
die Erkenntnisse der dynamischen Armutsforschung zu eigen macht. Im Zentrum
einer solchen Neuorientierung steht eine staatliche Lebenslaufpolitik,
die sich aus Sicht der Verarmungsgefahr an den kritischen Momenten einer
Biografie orientiert. Es geht hier also nicht um weniger oder um mehr Staat,
vielmehr braucht es einen strategischen Staat, der seine Interventionen
nahe an den biografischen Verläufen ausrichtet.
Bildungspolitik
- Ziel der Chancengleichheit wurde nicht erreicht |
|
In
unserer Studie haben wir eine solche kritische Phase in den Lebensläufen
von Menschen genauer untersucht. Unser Augenmerk galt der Bildungsphase
und insbesondere dem übergang von der Bildungs- zur Erwerbsphase.
Dabei hat sich gezeigt, dass Bildung, also das Ausmass an nachweisbarem
Bildungsvolumen, das eine Person aufweisen kann, noch immer der Armutsindikator
Nummer eins darstellt. So banal diese Feststellung erscheinen mag, so sehr
muss sie zu denken geben.
Ziel
der Reformen des Bildungswesens in den 60er und 70er Jahren war es ausdrücklich,
den Zugang zu den verschiedenen Bildungsangeboten allen jungen Menschen
zu öffnen, unabhängig von ihrer sozialen Herkunft.
So
wollte man zumindest jedem zu Beginn des Erwachsenenlebens eine Chancengleichheit
an der "Startlinie" gewähren.
Die
mit Studien belegbaren Fakten zeigen auf, dass dieses Ziel nicht erreicht
werden konnte. Und zwar in doppelter Hinsicht. Zum einen ist noch immer
ein Zusammenhang nachweisbar zwischen der sozialen Herkunft und der Wahrscheinlichkeit,
eine höhere Bildungsstufe zu erreichen. |
|
|
So ist zum Beispiel der Anteil
von Studierenden, deren Eltern selber einen Hochschulabschluss aufweisen,
rund sieben Mal höher als der Anteil von jenen, deren Eltern nur die
Grundschule besuchten.
um
anderen hat die Bildungsexpansion der letzten dreissig Jahre zur paradoxen
Situation geführt, dass immer mehr Bildungsnachweise erbracht werden
müssen, um im Arbeitsmarkt Fuss fassen zu können. Die wachsende
Nachfrage nach höherer Bildung führt zu längeren Ausbildungszeiten
und zur Schaffung neuer Ausbildungsgänge mit erhöhten Selektionsbedingungen.
Wer keinen qualifizierenden Abschluss vorweisen kann, hat keine berufliche
Zukunft. Umgekehrt ist allerdings der Nachweis einer guten Bildung auch
nicht mehr Garant für eine erfolgreiche berufliche Entwicklung. Bildung
- allem voran der formale Abschluss - ist keine hinreichende, sondern nur
noch eine notwendige Bedingung für eine gelingende Arbeitsmarktintegration.
Bildung
und Armut |
|
Mit
einem Hauptschulabschluss ohne nachobligatorische Ausbildung ist eine prekäre
Erwerbsbiografie vorgezeichnet. Eine Dauerexistenz in a-normalen Arbeitsverhältnissen,
in sich wiederholender Erwerbslosigkeit und in Abhängigkeit von der
Sozialhilfe ist in hohem Masse wahrscheinlich.
Junge
Erwachsene mit ungenügender Bildung sind denn auch eine jener sozialen
Gruppen, die bei der Sozialhilfe in den letzten Jahren massiv zugenommen
haben und die grosse Probleme bei der sozialen und beruflichen Integration
bereiten.
Dies
bestätigt indirekt auch ein Blick auf die Beschäftigungsstatistik:
Junge
Erwachsene tragen ein praktisch doppelt so hohes Risiko, arbeitslos zu
werden, wie die übrigen Altersgruppen. Dieser Zusammenhang wird unter
Berücksichtigung des Bildungsniveaus weiter akzentuiert. Nur gerade
86 Prozent der 30- bis 64-jährigen Männer ohne nachobligatorische
Ausbildung waren im Jahr 2000 erwerbstätig, gegenüber 92.9 Prozent
der Männer, die einen Lehr- oder Maturaabschluss besitzen, und gegenüber
95.6 Prozent der Männer mit einem Abschluss auf Tertiärstufe. |
|
|
Der Mangel an zuverlässigen Lebensperspektiven bereits zu Beginn der
Arbeitsmarktintegration erschwert die Herausbildung einer stabilen Identität.
Die Zunahme von psychischen Problemen und von Suchtgefährdung überrascht
darum nicht.
Schon
in einer frühen biografischen Phase entscheidet sich also, wer in
seinem weiteren Leben immer wieder mit der Gefahr der Verarmung und der
sozialen Ausgrenzung zu kämpfen haben wird - und wer nicht. Denn eine
geringe Bildung prägt den Lebenslauf in all seinen Facetten in hohem
Masse und auf Dauer.
Die
Chancen des Aufstiegs im Arbeitsmarkt sind äusserst beschränkt,
die Zugänge zu Weiterbildungsmöglichkeiten eng und die Gefahr,
durch technologischen Wandel den Arbeitsplatz zu verlieren, entsprechend
gross.
Bildung
beeinflusst auch die Wahl des Lebenspartners oder der Lebenspartnerin,
und schliesslich prägt das Bildungsniveau der Eltern den schulischen
Erfolg ihrer Kinder. Ein Teufelskreis, den es zu durchbrechen gilt!
Auch
zwischen Bildung, Gesundheit und Lebenserwartung ist ein Zusammenhang nachweisbar.
Wer ein geringes Bildungsniveau erreicht, trägt grössere Gesundheitsrisiken,
ist mit einer höheren Wahrscheinlichkeit, invalid zu werden, konfrontiert
und weist eine tiefere Lebenserwartung auf als Menschen, die eine gute
Ausbildung geniessen konnten.
Die
arbeitsmarktpolitische Bedeutung des Bildungssystems |
|
Die
ganze Summe dieser Zusammenhänge zeigt in aller Deutlichkeit die grosse
sozial- und arbeitsmarktpolitische Bedeutung des Bildungssystems auf. Wo
es gelingt, möglichst viele, ja alle Kinder und Jugendlichen auf ein
gutes Bildungsniveau zu bringen, dort wird sich später auch das Verarmungsrisiko
der Erwachsenen entsprechend vermindern. Und wo das Bildungswesen versagt,
dort darf man sich auch nicht über eine zunehmende Zahl von armutsbetroffenen
Haushalten wundern.
"Bildung schützt vor Armut und sozialer Ausgrenzung" - so lautet das
Fazit aller Untersuchungen, die wir zusammentragen konnten. Das schweizerische
Bildungssystem konnte bis heute diese sozialpolitische Erkenntnis nur bedingt
umsetzen. Zu viele junge Menschen kommen noch immer mit zu wenig guter
Bildung in das Berufsleben. Reformen - in Verbindung mit weiteren beschäftigungs-
und familienpolitischen Massnahmen - sind dringend notwendig. |
|
|
Quelle:
CARITAS SCHWEIZ, Carlo Knöpfel, Leiter Bereich Grundlagen, Dezember
2005 |
|
Weiterführende
Informationen |
|
Links
|
|
|
|
Externe
Links |
|