Kurt Eichenberger, WWF Schweiz Etwa ein Dutzend Wölfe leben in der Schweiz - doch diese wenigen Individuen sorgten in den vergangenen Jahren für Tausende von Artikeln und Sendungen. Wolf, Luchs und Bär bewegen. Wer weiss, vielleicht wird heute der Tag sein, an dem ein Denkprozess in beiden Lagern manifest wird. Dieser Denkprozess hat bei uns stattgefunden, und deshalb stehen wir heute gemeinsam hier: Naturschützer, Jäger, Schafzüchter und die Behörden in der Person von Reinhard Schnidrig, dem obersten Jagdaufseher der Schweiz, der den Denkprozess moderierte. 18 Jahre ist es her, dass im Val Ferret im Kanton Wallis die ersten Wölfe nachgewiesen wurden. Der nie gesehene Wolf, der auf völlig unvorbereitete Schafhalter traf, wurde nach zahlreichen Rissen mit dem wenig schmeichelhaften Namen "la bête du Val Ferret" benannt. Seither ist eine natürliche Wiederbesiedlung durch Wölfe aus den italienischen Abruzzen über die Südalpen in die Zentralalpen zu beobachten. Der Luchs schaffte die Rückkehr nicht alleine und so wurden mit Bewilligung des Bundes zwischen 1971 und 1976 in der Schweiz acht Individuen angesiedelt. Bären kommen - wie Sie wissen - bisher vereinzelte aus dem italienischen Trentino zu uns. Die Emotionen, die beim ersten Auftauchen des Wolfes aufwallten sind bis heute nicht verhallt. Der Wolf ist mehr als ein Tier, er ist als grosse Märchenund Sagenfigur auch schon längst ein Mythos geworden: Er ruft bei vielen von uns Erinnerungen und Sehnsüchte wach nach der unverfälschten Natur, die wir in der Schweiz in dieser Form schon längst verloren haben. Genau deshalb ist er für die Städter ein Symboltier. Und genau gleich ein Symboltier ist er für die andere Seite. Als Bedrohung der Nutzviehhaltung und als Vorbote von Wildnis wird der Wolf bekämpft. Dabei ist der Wolf einfach ein Raubtier, das auf natürlichem Wege in die Schweiz zurückkehrt. Mehr ist da nicht, aber auch nicht weniger. Höhepunkt der emotionalen Auseinandersetzung war der Wolf vom Chablais, der im Herbst 2006 zu ungeahnter Berühmtheit kam. Ein Wolfsweibchen und ein Männchen waren im Unterwallis unterwegs - mehr als 100 Schafe wurden gerissen. Der Herdenschutz, mit dem in den späten 90er-Jahren begonnen wurde, hatte sich noch längst nicht überall eingestellt, wo Wölfe auftauchten. Die Wogen gingen auf und ab. Weit über 1000 Artikel zählten wir in den Pressespiegeln der Schweizer Medien. Im Anschluss gab es ein Katzund Mausspiel mit Wolf und Schaf: Aufsichtsbeschwerden gegen den Abschuss, Strafanzeige gegen den fehlbaren Politiker, Artikel und Leserbriefe zuhauf. In dieser Zeit querten die ersten Wölfe den Alpenkamm Richtung Norden. In jedem neu betroffenen Kanton spielte sich wieder dasselbe ab: Der Wolf teilte die Akteure in zwei Lager, dazwischen gibt es nur wenig besonnene Köpfe: Breite Akzeptanz erhielt der Wolf bei der Bevölkerung in urbanen Regionen, teilweise auch in Bergkantonen wie Tessin und Graubünden. Heftiger Widerstand kam aus betroffenen Bauernund Jägerkreisen, insbesondere aus dem Wallis. Auch der Luchs bewegt die Gemüter, vor allem in Jagdkreisen. Als Predator macht er den Jägern in seinen Revieren Konkurrenz vor allem bei der Rehund Gämsjagd. Obwohl in der Tragweite ein untergeordnetes Thema, schaffen es die Grossraubtiere immer wieder zu grosser öffentlicher Wahrnehmung. Der Wolf erreichte sogar 13 parlamentarische Vorstösse in der Herbstsession 2010 - das ist etwa für jeden Wolf ein Vorstoss! Der Bundesrat wurde unter anderem beauftragt, bei der Berner Konvention vorstellig zu werden und eine Ausnahmeregelung für die Schweiz zu erwirken - ansonsten müsste die Schweiz das internationale Vertragswerk kündigen. Ein Vertragswerk notabene, das seit über dreissig Jahren den Schutz von Hunderten von Tierund Pflanzenarten europaweit sichert. Bisher gab es nur Verlierer in diesem schlechten Spiel: Beim Wolf gab es keinen Nachwuchs, und auch die Landwirtschaft konnte bisher nicht aufatmen. Einzig der Luchs konnte sich bisher einigermassen etablieren aber auch hier besteht die Gefahr eines erneuten Rückgangs der kleinen Population. Rechtsfälle, Aufsichtsbeschwerden und Strafanklagen, politische Vorstösse, Polemik hüben und drüben haben bisher die Lösungen eher erschwert als erleichtert. In dieser Pattsituation und Verhärtung tagte im Herbst 2009 die AG Grossraubtiere, eine Arbeitsgruppe des Bundesamtes für Umwelt mit allen relevanten Akteuren zur Grossraubtierfrage. WWF und Pro Natura machten einen Vorstoss für einen runden Tisch. Dieser Vorschlag wurde vom BAFU an derselben Sitzung aufgegriffen und die Idee einer Charta lanciert. JagdSchweiz und der Schweizerische Schafzuchtverband waren spontan bereit, in Gespräche einzutreten. Allen gemeinsam war der Wunsch, dass das BAFU den Prozess moderiert. Das BAFU nahm diese Herausforderung an und gemeinsam haben wir Mitte 2010 einen Gesprächsund Verhandlungsprozess gestartet. Dieser Prozess ist noch längst nicht zu Ende, doch wir stehen heute an einem Wendepunkt. Peter Zenklusen, Jagd Schweiz Unter der Moderation von Reinhard Schnidrig vom Bundesamt für Umwelt haben sich die Vertreter unserer vier grossen Verbände auf gemeinsamen Wunsch an einen Tisch gesetzt, um über den zukünftigen Umgang mit Bär, Wolf und Luchs zu sprechen. Dies mit dem klaren Ziel, zum ersten Mal gemeinsam mindestens den kleinsten gemeinsamen Nenner für eine zukünftige Managementstrategie zu definieren. Vertreter vom Bundesamt für Landwirtschaft sowie der KORA leisteten dabei fachlichen Support. Am ersten Treffen auf dem Gurten erklärten sich alle Verbandsvertretenden zu dieser Zielsetzung bereit. Auf dieses Treffen folgten weitere sechs und auf die erste Version des Papiers weitere sieben. Regelmässig gab es bei den Treffen zuerst eine "Kropfleerete" über neue vom Wolf verursachte Schäden, über in den Medien gelesene Äusserungen und über andere neue und für den einen oder anderen ärgerliche Vorkommnisse. Die Erarbeitung dieses Papiers war zeitweise ein steiniger Weg, ein hartes Ringen um das "Wie weiter", nicht nur einmal stand das Projekt kurz vor dem Aus. Aber trotzdem haben sich alle Beteiligten im Interesse der Sache immer wieder zusammengerauft und nach konstruktiven Lösungen gesucht. Und wir meinen heute ein erstes Zwischenziel auch erreicht zu haben. Das Resultat ersehen Sie in der Ihnen vorliegenden Fassung des Papiers "Grossraubtier-Management in der Schweiz". Pro Natura und WWF akzeptieren darin die nachhaltige Jagd und Nutztierhaltung als Bewirtschaftungsformen, die wichtige gemeinwirtschaftliche Leistungen erbringen. Der Schweizerische Schafzuchtverband sowie JagdSchweiz anerkennen die natürliche Rückkehr und Ausbreitung der Grossraubtiere in die Schweiz. Dies ist ein erster Schritt für gemeinsame Lösungen auch in Zukunft. Mirjam Ballmer, Pro Natura Das Papier "Grossraubtier-Management in der Schweiz" ist Resultat der von den vier Organisationen geführten Verhandlungen. Es besteht aus Grundsätzen, Zielen und Handlungsfeldern. Zu den Grundsätzen gehört Folgendes: Die Jagd und die Sömmerung von Nutztieren sind Bewirtschaftungsformen, die nachhaltig betrieben wichtige gemeinwirtschaftliche Leistungen erbringen. Sie werden von den Umweltverbänden als solche anerkannt. Diese kommen den Nutzerverbänden entgegen, indem die Regulation von Grossraubtieren kein Tabu mehr ist. Bei Konflikten um die Grossraubtiere, die Nutztierhaltung und die jagdliche Nutzung von Wildtieren, sind alle vier Organisationen somit bereit, mit einem pragmatischen Vorgehen nach Kompromissen und gemeinsam getragenen Lösungen zu suchen. Als Kurzformel zusammengefasst bedeutet unser Papier, dass JagdSchweiz und der Schweizerische Schafzuchtverband die natürliche Rückkehr und Ausbreitung der Grossraubtiere in der Schweiz akzeptieren und dass die Umweltorganisationen sich klar für die Nutzungsformen Jagd und Schafsömmerung aussprechen. Der Herdenschutz soll einen zentralen Pfeiler darstellen. Dieser soll künftig von den Schafzüchtern sowohl in der Praxis als auch ideell mitgetragen werden. Die Jäger anerkennen offiziell, in den Grossraubtieren natürliche Konkurrenten bekommen zu haben. Im Gegenzug bieten die Naturschutzorganisationen Hand für die Regulation von Grossraubtieren, wenn sich Bestände etabliert haben. Einzelabschüsse von schadenstiftenden Einzeltieren sind gemäss Konzepten auch heute schon möglich und werden in der Praxis seit Jahren angewandt. Als Handlungsfelder festgelegt werden die Zusammenarbeit mit den Nachbarländern, der Ausbau, beziehungsweise die Weiterführung des wissenschaftlichen GrossraubtierMonitorings, der Einsatz von geeigneten Herdenschutzmassnahmen wo möglich und nötig sowie die Zucht und der Einsatz von tauglichen Herdenschutzhunden. Diese Vereinbarung regelt nicht alles. Es ist nicht mehr - aber auch nicht weniger - als eine Absichtserklärung. Wir sind uns bewusst, dass sie nicht alle Fragen klärt. Im folgenden Prozess der Ausarbeitung der neuen Grossraubtierkonzepte werden viele Details diskutiert werden müssen, die mit diesem Papier noch nicht geklärt werden. Es gibt auch Themen, die die Vereinbarung gar nicht anspricht, weil weiterhin unterschiedliche Meinungen dazu bestehen. Es darf kein Wunder erwartet werden. Unterschätzen dürfen Sie die Bedeutung dieser Vereinbarung aber nicht. Es ist das erste Mal, nach jahrelangen Kämpfen, dass die Organisationen (mehrmals) zusammen an einen Tisch gesessen sind und sich überlegt haben, wo eigentlich die Gemeinsamkeiten stecken und wo Kompromisse möglich sind. Dieser Prozess hat sowohl bei den Beteiligten, als auch in den Verbänden für viele Diskussionen gesorgt und wird das wohl auch in nächster Zeit tun. Die Beteiligten erhoffen sich von diesem ersten Schritt eine Versachlichung der Diskussion in den Medien, Parlamenten und Regierungsstuben. Wir wollen ein Signal senden, dass nicht gewonnen hat, wer im Ring länger stehen bleibt und den Ring mit weniger Blessuren verlässt. Gewonnen haben die, die den Ring gar nicht mehr besteigen und vorab gemeinsame Lösungen suchen. German Schmutz, Schweizerischer Schafzuchtverband Das gemeinsame Papier wird uns in Zukunft helfen, Konflikte konstruktiv anzugehen, sei es mittels Informationen durch Beratung, bei der Umsetzung von Schutzmassnahmen und bei Schadensfällen. Züchter und Halter sind bereit, unter Berücksichtigung der regionalen Verhältnisse, zumutbare Massnahmen zum Schutz der Herden zu ergreifen, um ein Nebeneinander von Grossraubtieren mit der nachhaltigen Nutztierhaltung sowie Alpsömmerung zu ermöglichen. Die Arbeit wird weiter gehen: Das Parlament hat das Bundesamt für Umwelt mit der Überarbeitung der bestehenden Grossraubtierkonzepte beauftragt (Motion Hassler "Grossraubtier-Management",10.3605, s. unten). Die Antwort des Europarates auf den Antrag der Schweiz, die Konvention von Bern anzupassen (Motion Fournier 10.3264) steht noch aus. Die Verantwortlichen für das Grossraubtier-Management der Organisationen JagdSchweiz, Pro Natura, Schweizerischer Schafzuchtverband und WWF sind bereit, bei den notwendigen Anpassungen der bestehenden Konzepte Bär, Luchs und Wolf lösungsorientiert mitzuarbeiten. Die gemeinsamen Grundsätze, Ziele und Handlungsfelder gelten bei der Revision der Konzepte als Grundlage. Dieser Prozess wird voraussichtlich nach der Inkraftsetzung der neuen Jagdverordnung im Herbst 2012 beginnen.
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